»Salvo?« Mein Herz machte einen Satz, aber es war immer noch Grace. »Sind Sie das, Salvo? Der Dolmetscher?«
»Ja, genau. Könnten Sie mir jetzt bitte Hannah geben?« – das Handy fest ans Ohr gepreßt, Antons wegen. »Es ist persönlich, und es eilt ein bißchen. Wären Sie so nett, sie an den Apparat zu holen? Sagen Sie ihr einfach« – um ein Haar wäre mir »Salvo« herausgerutscht –, »daß ich es bin.« Rasches Lächeln zu Anton hinüber.
Anders als Hannah lebte Grace nach afrikanischem Tempo. Je wichtiger eine Angelegenheit, desto mehr galt: Eile mit Weile. »Hannah hat zu tun, Salvo«, sagte sie schließlich vorwurfsvoll.
Zu tun? Wie? Mit wem? Ich schlug einen militärischen Maxie-Ton an.
»Trotzdem. Es dauert nur eine Minute. Es ist dringend, Grace. Sie weiß genau, worum es geht. Wenn Sie so gut wären, bitte.«
Noch eine epochale Pause, die Anton geduldig mit mir teilte.
»Geht es Ihnen gut, Salvo?«
»Danke, ja. Ist sie da?«
»Hannah ist grade bei der Oberschwester drin, Salvo. Eine ganz ernste Sache. Sie hätten es gar nicht gern, wenn ich sie störe. Probieren Sie es lieber wann anders, Salvo. Morgen vielleicht, wenn sie frei hat.«
Bei der Oberschwester? Der Halbgöttin in Weiß? Eine ganz ernste Sache? Was ? Daß sie mit verheirateten Dolmetschern schlief? Ich mußte ihr eine Nachricht hinterlassen – aber was für eine?
»Salvo?« Wieder Grace.
»Ja?«
»Ich muß Ihnen was Trauriges sagen.«
»Ja?«
»Jean-Pierre. Der alte Mann, den sie auf der Heide aufgegabelt haben. Wir haben ihn verloren, Salvo. Hannah war ganz fertig. Ich auch.«
An diesem Punkt muß ich die Augen geschlossen haben. Als ich sie wieder aufschlug, hatte Anton mir das Handy abgenommen und dem Jungen im Trainingsanzug ausgehändigt.
»So heißt Ihre Frau, hm?« fragte er. »Hannah?«
»Warum nicht?«
»Woher soll ich das wissen, Chef? Kommt ganz drauf an, wen Sie sonst noch auf Ihrem Arm stehen haben.«
Maxies Männer schulterten ihre Seesäcke und traten in die Dunkelheit hinaus. Vor uns ragte bedrohlich ein gedrungenes, namenloses Flugzeug in den Abendhimmel. Anton ging neben mir her, um den Franzosen mit der Baskenmütze kümmerte sich Benny.
5
Es ist eine bekannte Tatsache, daß am Vorabend der Schlacht die Gedanken noch des loyalsten Jungrekruten auf ungeahnte Abwege geraten können, teils bis an die Grenze zur Meuterei. Und ich will nicht leugnen, daß auch die meinigen keine Ausnahme bildeten, zumal sich unser fensterloses Fluggerät in puncto Innenausstattung, Belüftung und Beleuchtung eher für den Transport von Ausstellungshunden geeignet hätte und das Brüllen der beiden Triebwerke, nachdem sich ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt hatte, eine Toncollage sämtlicher Stimmen bildete, die ich nicht hören wollte, allen voran Penelopes. Statt gepolsterter Sitze hatten wir Eisenkäfige, zum Mittelgang hin offen und mit verdreckten Gefängnismatratzen bestückt. An der Decke hingen Netze aus orangefarbenem Gurtband, und demjenigen, der den Sprung ins Unbekannte wagen mochte, standen Haltegriffe zur Verfügung. Mein einziger Trost waren Anton und Benny, die die Zellen neben mir belegten, aber Benny führte, wie es aussah, sein Haushaltsbuch, und Anton war in ein moribundes Pornoheft vertieft.
Vor dem Cockpit, für manchen das Allerheiligste eines Flugzeugs, spannte sich ein zerschlissenes Absperrband. Die beiden Piloten, mittelalt, übergewichtig und unrasiert, ignorierten ihre Passagiere so geflissentlich, daß man sich fragte, ob sie überhaupt wußten, daß sie welche an Bord hatten. Dazu die blauen Lämpchen der Gangbeleuchtung, die Erinnerungen an ein bestimmtes Nordlondoner Krankenhaus weckten: kaum verwunderlich, daß mein Tatendurst versiegte und meine Gedanken ihren Pendelverkehr zwischen Penelope und Hannah wieder aufnahmen.
Wenige Minuten nach dem Start waren die Männer allesamt von der afrikanischen Schlafkrankheit niedergestreckt worden, ihre Seesäcke als Kissen unterm Kopf. Nur Maxie und sein französischer Freund nicht. Sie hockten im hinteren Teil der Maschine und schoben sich Papierbögen hin und her, wie ein besorgtes Ehepaar, das ein bedrohliches Schreiben von der Hypothekenbank erhalten hat. Der Franzose, nunmehr ohne seine Baskenmütze, hatte eine Adlernase, stechende Augen und eine kreisrunde, von strohblondem Haar eingefaßte Tonsur. Wie ich dem wortkargen Benny entlockte, hieß er Monsieur Jasper. Ein Franzose, der Jasper hieß? Hatte es das schon mal gegeben? Aber vielleicht reiste ja auch er unter einem Decknamen.
»Soll ich vielleicht rübergehen und ihnen meine Dienste anbieten?« fragte ich Anton – die beiden mußten doch Verständigungsprobleme haben, dachte ich.
»Wenn der Skipper Ihre Dienste braucht, sagt er Ihnen schon Bescheid, Chef«, antwortete er, ohne von seinem Pornoheft aufzublicken.
Von den restlichen Mitgliedern unseres Teams kann ich, bis auf eine Ausnahme, nichts berichten. In meiner Erinnerung verschmelzen sie zu einer Gruppe verbissen dreinblickender Gestalten in ausgebeulten Anoraks und Baseballmützen, die jedesmal verstummten, wenn ich in ihre Nähe kam.
»Na, wieder Friede an der Ehefront, alter Junge? Meine Leute nennen mich übrigens Skipper.«
Ich mußte eingedöst sein, denn als ich aufsah, blickte ich aus nächster Nähe in die vergrößerten blauen Augen von Maxie, der in Araber-Manier neben mir in die Hocke gegangen war. Sogleich hellte sich meine Stimmung auf. Hatte ich nicht oft genug Pater Michael gelauscht, wenn er mir von den kriegerischen Heldentaten eines Colonel T. E. Lawrence und anderer großer Engländer erzählte? Wie durch Zauberei verwandelte sich das Innere unseres Flugzeugs in ein arabisches Nomadenzelt. Das Gurtband über uns wurde zum Dach aus Ziegenhaut. In meiner Phantasie blinzelten sogar Wüstensterne daraus hervor.
»Ehefriede wiederhergestellt, Skipper«, antwortete ich, ebenso schneidig wie er. »Aus der Ecke sind keine weiteren Probleme zu erwarten, Gott sei Dank.«
»Und Ihr kranker Freund?«
»Der hat’s leider nicht gepackt«, antwortete ich angemessen salopp.
»Arme Sau. Aber wer will schon hinter der Herde hertraben, wenn seine Zeit abgelaufen ist? Kennen Sie sich mit Napoleon aus?«
»Nicht besonders.« Ich wollte nicht gern zugeben, daß ich in meinen historischen Studien erst bei Cromwell, Our Chief of Men angelangt war.
»Spätestens bei Borodino war er im Eimer. Schlafgewandelt in Smolensk, plemplem in Borodino, mit vierzig total hinüber. Konnte nicht mehr pissen, konnte nicht mehr geradeaus denken. Das heißt, mir bleiben noch drei Jahre. Ihnen?«
»Ah, zwölf«, sagte ich. Schon erstaunlich, daß sich ein Mann, der mit Französisch nicht zurande kam, ausgerechnet Napoleon zum Vorbild genommen hatte.
»Es wird eine Blitzaktion. Hat Anderson Ihnen das gesagt?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Wir tauchen auf, palavern mit ein paar Kongolesen, handeln einen Deal mit ihnen aus, lassen sie einen Vertrag unterschreiben, tauchen wieder ab. Sechs Stunden höchstens, länger haben wir sie nicht am Wickel. Einzeln haben sie alle schon ja gesagt, jetzt müssen wir sie bloß noch dazu kriegen, daß sie auch zueinander ja sagen. Offiziell sind sie woanders, und da müssen sie auch wieder hin, bevor die Uhr Mitternacht schlägt. Kapiert?«
»Kapiert, Skipper.«
»Für Sie ist das hier eine Premiere, richtig?«
»Leider ja. Meine Feuertaufe, könnte man sagen«, gestand ich mit einem zerknirschten Lächeln, um ihm zu zeigen, daß ich mir meiner Unzulänglichkeit durchaus bewußt war. Dann konnte ich meine Neugier nicht länger zügeln: »Sie möchten mir vermutlich nicht verraten, wohin wir fliegen, Sir?«
»Auf eine kleine Insel oben im Norden, wo wir ungestört sind. Je weniger Sie wissen, desto ruhiger können Sie hinterher schlafen.« Er gestattete sich eine Art Schmunzeln. »Bei diesen Jobs ist es immer dasselbe. Erst heißt es ›Beeilung‹, dann ›Warten‹ und zuletzt: ›Wo bleiben Sie denn?‹ Und bevor du dich’s versiehst, spielen noch zehn andere Wichtigtuer mit, deine eigenen Leute sind über den ganzen Globus verstreut, und dein Hinterreifen ist im Arsch.«