Die Strafe, die meinem Vater von der Heiligen Kirche auferlegt wurde, fiel zwar weniger drakonisch aus als bei meiner Mutter, aber streng war sie auch. Ein Jahr in einer jesuitischen Bußanstalt außerhalb von Madrid, zwei weitere als Arbeiterpriester in einem Slum in Marseille, dann erst durfte er zurück in den Kongo, den er wider alle Vernunft so liebte. Und wie er es deichselte, ist mir ein Rätsel, und dem Herrgott wahrscheinlich auch, aber an irgendeiner Kehre seines dornigen Pfads beschwatzte er das katholische Waisenhaus, in dessen Obhut ich mich befand, mich ihm zu überlassen. Von da an begleitete der halbblütige Bastard Salvo ihn überallhin, versorgt von Kinderfrauen, die gar nicht alt und nicht häßlich genug sein konnten. Der Sprößling eines verstorbenen Onkels, hieß es zunächst. Später: Altardiener und Ministrant – bis zu dem bereits erwähnten schicksalhaften Abend meines zehnten Geburtstags, an dem er mir, sich seiner Sterblichkeit und meines Heranwachsens gleichermaßen bewußt, sein nur allzu menschliches Herz ausschüttete, was ich bis zum heutigen Tag als das größte Kompliment nehme, das ein Vater seinem ungeplanten Sohn machen kann.
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Die Jahre, die auf den Tod meines seligen Vaters folgten, waren nicht leicht für den verwaisten Salvo, vornehmlich deshalb, weil die weißen Missionare meine Anwesenheit als steten Stachel in ihrem Fleische empfanden; daher auch mein Swahili-Spitzname mtoto wa siri, das Kind, das es nicht gibt. Nach afrikanischer Überzeugung tragen wir den Geist unseres Vaters und das Blut unserer Mutter in uns, und das war mein Problem in aller Kürze. Wäre mein seliger Vater schwarz gewesen, hätte man mich vielleicht als Übergepäck geduldet. Aber er war weiß durch und durch, was immer die Simba dachten, und ein weißer Missionar produziert keinen Nachwuchs, Punkt. Das Kind, das es nicht gab, durfte den Priestern bei Tisch und am Altar dienen und auf ihre Schule gehen, aber sobald ein kirchlicher Würdenträger gleich welcher Farbe am Horizont auftauchte, ab mit ihm ins Dienstbotenquartier, wo es sich versteckt zu halten hatte, bis die Luft wieder rein war. Was nicht heißen soll, daß ich den Patres ihren Kleinmut verüble – sowenig wie das gelegentliche Übermaß ihrer Wertschätzung, denn anders als mein seliger Vater beschränkten sie sich, wenn sie sich ihrer verdrängten fleischlichen Gelüste annahmen, auf das eigene Geschlecht, wie zu sehen an Père André, unserem Redner vor dem Herrn, der mich mit mehr Aufmerksamkeit bedachte, als ich so recht verkraften konnte, oder an Père François, der André als seinen speziellen Freund betrachtete und an diesem Aufblühen der Zuneigung Anstoß nahm. In unserer Missionsschule derweil genoß ich weder die Ehrerbietung, die unserer Handvoll weißer Kinder zuteil wurde, noch die Kameradschaft, die unter meinen schwarzen Altersgenossen herrschte. Kein Wunder also, daß es mich zu dem niedrigen Ziegelbau zog, in dem die Bediensteten wohnten und der, ohne daß die Patres dies ahnten, der wahre Dreh- und Angelpunkt unserer Gemeinde war, Herberge aller vorbeiziehenden Wandersleute und Nachrichtenbörse für einen Umkreis von vielen Meilen.
Und dort, zusammengerollt auf einer Holzpritsche neben dem gemauerten Kamin, lauschte ich mit angehaltenem Atem den Erzählungen nomadischer Jäger, Medizinmänner, Zauberspruch-Verkäufer, Krieger und Ältester, mucksmäuschenstill, damit man sich ja nicht meiner entsann und mich ins Bett schickte. Und dort keimte auch meine Liebe zu den vielen Sprachen und Dialekten des Ostkongo auf. Als das kostbare Erbe meines seligen Vaters hütete ich sie, hegte und pflegte sie in aller Heimlichkeit, hortete sie in meinem Kopf als Schutz gegen welche Übel auch immer, plagte Eingeborene und Missionare gleichermaßen um ein noch so kleines Körnchen Mundart, eine Redewendung. Allein in meiner winzigen Zelle schrieb ich mir bei Kerzenlicht meine eigenen kindlichen Wörterbücher zusammen. Bald schon wurden diese magischen Puzzleteile meine Identität und meine Zuflucht, die private Welt, die mir keiner wegnehmen konnte und die nur wenige Auserwählte betreten durften.
Und noch heute frage ich mich, wie das Leben des Kindes, das es nicht gab, wohl verlaufen wäre, wenn ich diesen einsamen, zwiespältigen Pfad hätte weitergehen dürfen – ob sich das Blut meiner Mutter letztendlich als stärker erwiesen hätte als der Geist meines Vaters. Die Frage muß allerdings hypothetisch bleiben, denn seine ehemaligen Glaubensbrüder setzten ihre ganze Energie daran, mich loszuwerden. Meine Hautfarbe, mein Sprachtalent, meine vorlaute irische Art und, schlimmer noch, das gute Aussehen, das ich den Missionsdienern zufolge von meiner Mutter geerbt hatte, all das mahnte sie täglich an seinen Fehltritt.
Nach vielerlei Hin und Her verlautete zum großen Erstaunen aller, meine Geburt sei beim britischen Konsul in Kampala aktenkundig, laut demselben Bruno-der-ansonsten-Namenlose ein vom Heiligen Stuhl adoptiertes Findelkind war. Sein angeblicher Vater, ein nordirischer Seefahrer, hatte das Neugeborene der Oberin der Karmelitinnen in die Arme gedrückt, auf daß sie es im rechten Glauben großzöge. Darauf war er verschwunden, ohne eine Nachsendeadresse zu hinterlassen. So jedenfalls hieß es in der reichlich unplausiblen handschriftlichen Darstellung des wackeren Konsuls, der seinerseits ein treuer Sohn Roms war. Den Nachnamen Salvador, so erklärte er, habe mir die Mutter Oberin selbst gegeben, die spanischer Abstammung war.
Aber warum päpstlicher sein als der Papst? Ich war offiziell ein Punkt auf der Bevölkerungsweltkarte, dem langen linken Arm Roms zu ewigem Dank verpflichtet, daß er sich nach mir ausgestreckt hatte.
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Von nämlichem langen Arm heimgeholt in die Fremde Englands, wurde ich dem Herz-Jesu-Heim überantwortet, einem Internat für zweifelhafte katholische Waisen männlichen Geschlechts in den grünen Hügeln von Sussex. Als sich an einem arktischen Nachmittag Ende November seine gefängnisartigen Tore hinter mir schlossen, erwachte in mir ein Geist der Rebellion, auf den weder ich noch meine neuen Wohltäter vorbereitet waren. Binnen weniger Wochen hatte ich mein Bettzeug in Brand gesteckt, mein Lateinbuch verschmiert, war unerlaubt der Messe ferngeblieben und bei einem Fluchtversuch im Laderaum eines Wäschereiwagens erwischt worden. Hatten die Peitschenhiebe der Simba den Nachweis erbringen sollen, daß mein seliger Vater schwarz war, so suchte nun unser Abt mir mit aller Kraft zu beweisen, daß ich weiß war. Selber ein Ire, fühlte er sich in besonderem Maße gefordert. Die Wilden, so donnerte er, während er sich an mir verausgabte, kennen nur Exzesse. Ihnen fehlt die Mitte. Zu seiner Mitte findet der Mensch nur durch Selbstdisziplin, und indem er mich schlug – und für mich betete, während er mich schlug –, hoffte er dieses mein Defizit wettzumachen. Aber Rettung nahte von anderer Seite, als er dachte, in Gestalt eines ergrauten, aber rüstigen Ordensbruders, der seiner Geburt und seinen Gütern entsagt hatte.
Pater Michael, mein neuer Beschützer und bestallter Beichtvater, entstammte dem katholischen englischen Landadel. Seine lebenslange Wanderschaft hatte ihn bis in die fernsten Weltgegenden geführt. Nachdem ich mich einmal an seine Zärtlichkeiten gewöhnt hatte, wurden wir enge Freunde und Verbündete, und die Aufmerksamkeiten des Abtes nahmen proportional dazu ab, doch ob sich das meinem besseren Betragen verdankte oder, wie ich heute vermute, einer Abmachung zwischen den beiden, wußte ich nicht, und es war mir auch herzlich egal. Während eines einzigen strammen Nachmittagsmarsches über die regengepeitschten Hügel, immer wieder unterbrochen von Zuneigungsbezeigungen, überzeugte Pater Michael mich davon, daß meine gemischte Abstammung, weit davon entfernt, ein Makel zu sein, der getilgt gehörte, Gottes kostbares Geschenk an mich war, eine Sichtweise, der ich mich dankbar anschloß. Am meisten angetan hatte es ihm meine Fähigkeit – die ihm zu demonstrieren ich die Kühnheit besaß –, fließend aus einer Sprache in die andere zu gleiten. Im Missionshaus hatte ich für diese Zurschaustellung meiner Talente teuer bezahlen müssen, unter Pater Michaels verzückten Blicken jedoch erlangten sie quasi-himmlischen Status: