Daß Mr. Anderson eine bloße Aushilfskraft wie mich persönlich anrief, ließ die Ausmaße der gegenwärtigen Krise ahnen. Normalerweise war mein Ansprechpartner Barney, sein fescher Abteilungsleiter. Zweimal in den letzten zehn Tagen hatte Barney mich gebeten, mich für eine, wie er sagte, »heiße Sache« bereitzuhalten, nur um mich dann wissen zu lassen, daß man mich doch nicht benötigte.
»Jetzt gleich, Mr. Anderson?«
»Auf der Stelle. Wenn Sie es einrichten können, auch früher. Tut mir aufrichtig leid, Sie bei Ihrem Empfang zu stören, Salvo, aber die Sache ist dringend«, fuhr er fort, und ich hätte vermutlich verblüfft sein müssen, daß er über den Empfang für Penelope Bescheid wußte, aber ich war es nicht. Von Mr. Anderson konnte man Einblicke erwarten, die gewöhnlichen Sterblichen verwehrt blieben. »Es ist Ihr ureigenes Terrain, Salvo, Ihr Herzland.«
»Aber, Mr. Anderson …«
»Was gibt’s, mein Junge?«
»Es ist ja nicht nur die Cocktailparty jetzt. Danach kommt das Essen bei dem neuen Eigner. Smokingzwang«, schob ich nach, um Eindruck zu schinden. »Das ist eine nie dagewesene Sache. Bei einem Eigner, meine ich. Chefredakteur, ja. Aber Eigner …« Nennen Sie es Schuldbewußtsein, nennen Sie es Sentimentalität, ich schuldete es Penelope, mich zumindest etwas zu zieren.
Ein Schweigen folgte, als hätte ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt, aber das schafft bei Mr. Anderson keiner so leicht, er ist der Fels, auf dem seine eigene Kirche gebaut ist.
»Das tragen Sie also gerade? Einen Smoking?«
»Genauso ist es, Mr. Anderson.«
»Jetzt? Während wir beide telefonieren? Sie haben ihn an?«
»Ja.« Was dachte er denn? Daß ich an einem Bacchanal teilnahm? »Wie lange würde es denn gehen?« fragte ich in dem nachfolgenden Schweigen, dessen Tiefe, so mein Verdacht, auch daher rührte, daß er seine schwere Hand auf die Sprechmuschel gelegt hatte.
»Wie lange würde was gehen?« – als ob er den Faden verloren hätte.
»Der Auftrag, Sir. Die dringende Angelegenheit, in der Sie mich brauchen. Wie lange soll sie dauern?«
»Zwei Tage. Sagen wir sicherheitshalber drei. Sie zahlen gut, davon können Sie ausgehen. Fünftausend Dollar wären sicherlich durchaus im Rahmen.« Und nach weiteren Beratungen im Hintergrund, hörbar erleichtert: »Kleidung müßte sich auftreiben lassen, Salvo. Kleidung ist kein Problem, sagt man mir.«
Hellhörig gemacht durch den Pronomenwechsel, hätte ich mich gern erkundigt, wer die denn waren, die mir hier diesen noch nie dagewesenen Bonus zahlen wollten, wo es doch üblicherweise für den Dienst am Vaterland nicht mehr als eine bescheidene Pauschale plus Aufwandsentschädigung gab – aber die Ehrerbietung hielt mich zurück, wie meistens bei Mr. Anderson.
»Montag früh muß ich beim High Court dolmetschen. In einem sehr wichtigen Fall«, wandte ich schwächlich ein. Und indem ich ein drittes und letztes Mal meine Gattenpflichten ins Spiel brachte: »Ich meine, was soll ich denn meiner Frau sagen?«
»Ein Ersatz für Sie ist bereits gefunden, Salvo, und der High Court hat keine Einwände gegen die neue Lösung, vielen Dank.« Er schwieg, und wenn Mr. Anderson schweigt, schweigt man auch. »Was Ihre Frau angeht, so sagen Sie ihr am besten, ein langjähriger Klient aus der Wirtschaft benötigt dringend Ihre Dienste und Sie können es sich nicht leisten, den Auftrag abzulehnen.«
»In Ordnung, Sir. Verstanden.«
»Durch weitere Erklärungen verwickeln Sie sich nur in Widersprüche, deshalb lassen Sie auf alle Fälle die Finger davon. Und Sie sind also so richtig piekfein? Gewichste Schuhe, Frackhemd, der ganze Schamott?«
Durch die wirbelnden Nebel meiner Verblüffung bekannte ich, daß ich in der Tat so richtig piekfein war.
»Warum höre ich kein Partygeschnatter im Hintergrund?«
Ich erklärte, daß ich mich in einen Korridor verfügt hatte, um seinen Anruf entgegenzunehmen.
»Haben Sie einen separaten Ausgang in Reichweite?«
Eine Treppe führte vor mir ins Erdgeschoß hinunter, und in meiner Verwirrung sagte ich das wohl auch.
»Dann gehen Sie gar nicht erst wieder hinein. Wenn Sie auf die Straße herauskommen, schauen Sie nach links, dann sehen Sie einen blauen Mondeo, der vor einem Wettbüro parkt. Kennzeichen endet mit LTU, weißer Fahrer namens Fred. Welche Schuhgröße haben Sie?«
Kein Mensch auf der Welt vergißt seine eigene Schuhgröße, dennoch mußte ich tief in meinem Gedächtnis kramen, um sie zutage zu fördern. Zweiundvierzig.
»Und sprechen wir von breiten Zweiundvierzig oder schmalen?«
Breiten, Sir, sagte ich. Ich hätte hinzufügen können, daß Pater Michael meine Füße immer als Afrikanerfüße bezeichnet hatte, aber ich schenkte es mir. In meinen Gedanken war gerade kein Platz für Pater Michael oder meine Füße, afrikanisch oder nicht. Und eigentlich auch nicht für Mr. Andersons Mission von höchster nationaler Wichtigkeit, sosehr ich wie stets darauf brannte, meiner Königin und meinem Lande zu Diensten zu sein. Ich konnte nur eines denken – daß sich mir hier aus heiterem Himmel ein Fluchtweg bot, eine dringend benötigte Dekompressionskammer: zwei Tage einträglicher Arbeit sowie zwei Nächte einsamen Meditierens in einem Luxushotel, in denen ich mein aus den Fugen geratenes Universum wieder zusammensetzen könnte. Denn während ich mein Telefon aus der Innentasche meiner Smokingjacke herausgenestelt und an mein Ohr gebracht hatte, hatte ich den noch an mir haftenden Geruch Hannahs eingeatmet, der schwarzafrikanischen Krankenschwester, mit der ich mich von gestern kurz nach dreiundzwanzig Uhr britischer Sommerzeit bis zur Sekunde meines Aufbruchs vor einer Stunde und fünfunddreißig Minuten stürmisch geliebt hatte, weshalb mir in meiner Eile, rechtzeitig zu Penelopes Empfang zu kommen, keine Zeit mehr zum Waschen geblieben war.
2
Ich bin kein Mensch, der an Vorzeichen glaubt, an Auguren, an Fetische, an Weiße oder Schwarze Magie, auch wenn ich davon garantiert etwas mit der Muttermilch eingesogen haben muß. Tatsache ist dennoch, daß mein Weg zu Hannah auf der ganzen Strecke ausgeschildert gewesen war, hätte ich nur Augen gehabt, es zu sehen.
Das erste nachgewiesene Zeichen erhielt ich an dem Montagabend vor jenem schicksalhaften Freitag, im Bella Vista in der Battersea Park Road, unserer Trattoria ums Eck, wo ich in höchst untrauter Einsamkeit bei aufgewärmten Cannelloni und einer Karaffe von Giancarlos gemeingefährlichem Chianti saß. Zu Erbauungszwecken las ich in meiner Taschenbuchausgabe von Antonia Fräsers Cromwell, Our Chief of Men – englische Geschichte war meine Achillesferse, aber ich arbeitete an mir, freundlich angeleitet von Mr. Anderson, der sich in der Vergangenheit unserer Insel bestens auskannte. Die Trattoria war leer bis auf zwei andere Tische: den großen am Fenster, den eine redefreudige Gruppe von Tagesausflüglern belegt hatte, und das Katzentischchen, an dem an diesem Abend ein sehr distinguierter älterer Herr saß, emeritiert möglicherweise, winzig klein von Statur. Seine Schuhe waren blitzblank poliert, das fiel mir sofort auf. Für polierte Schuhe habe ich seit meinen Herz-Jesu-Tagen einen Blick.
Mein einsames Cannelloni-Mahl war so nicht geplant gewesen. Es war unser fünfter Hochzeitstag, und ich war von der Arbeit nach Hause geeilt, um Penelope ihr Lieblingsgericht zu kochen, Coq au Vin mit einer Flasche edelsten Burgunders, gefolgt von einem reifen Brie, den ich mir in unserem Feinkostgeschäft frisch vom Rad hatte schneiden lassen. Ich hätte die Unwägbarkeiten des Journalistenalltags mittlerweile gewöhnt sein sollen, aber als sie anrief, um mir mitzuteilen – in flagranti im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich flambierte gerade die Hähnchenteile –, daß eine Krise im Privatleben eines Fußballstars es ihr unmöglich machen würde, vor Mitternacht daheim zu sein, reagierte ich in einer Weise, die mich im Rückblick schockierte.