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Ich schrie sie nicht an, dafür bin ich nicht der Typ. Ich bin ein unterkühlter, angepaßter mittelbrauner Brite. Ich halte mich zurück, oft in größerem Maße als diejenigen, denen ich mich angepaßt habe. Ich legte behutsam den Hörer auf. Dann kippte ich ohne jede weitere Überlegung oder Abwägung Huhn, Brie und die schon geschälten Kartoffeln in den Abfallhäcksler neben der Spüle, legte den Finger auf den Startknopf und ließ ihn dort, wie lange, weiß ich nicht, aber beträchtlich länger als technisch notwendig; das Hühnchen war jung und bot wenig Widerstand. Als ich wieder zu mir kam, stürmte ich den Prince of Wales Drive entlang Richtung Westen, den Cromwell in die Jackentasche gestopft.

Sechs Essensgäste saßen um den ovalen Tisch im Bella Vista: drei fleischige Männer in Blazern mit drei nicht minder korpulenten Gattinnen, alle sechs die guten Dinge des Lebens sichtlich sattsam gewöhnt. Sie waren aus Rickmansworth, mußte ich erfahren, und sie nannten es Ricky. Sie hatten sich im Battersea Park eine Freilichtaufführung des Mikado angesehen. Die führende Stimme, die einer der Gattinnen, rügte die Inszenierung. Sie habe nie viel von den Japanern gehalten – nicht wahr, Darling? –, und dieses Gesinge mache die Sache ja nun auch nicht besser. Ihr Monolog unterschied nicht nach Themen, sondern wälzte sich einförmig dahin. Manchmal machte sie eine Pause, die man ihr als Denkpause hätte anrechnen können, und räusperte sich dann vor dem Weitersprechen, unnötigerweise, denn es hätte sie ohnehin niemand zu unterbrechen gewagt. Vom Mikado kam sie ohne Atemholen oder Änderung im Tonfall auf ihre kürzliche Unterleibsoperation zu sprechen. Der Gynäkologe hatte die Sache grandios verpfuscht, aber gut, er war ein Freund, deshalb würde sie von einer Klage absehen. Nahtloser Übergang zu dem enttäuschenden Künstlermann ihrer Tochter, einem Taugenichts ersten Ranges. Sie hatte noch andere Ansichten, alle dezidiert, alle mir eigentümlich vertraut, und sie tat sie in ungebrochener Lautstärke kund, als der kleine Herr mit den blanken Schuhen die beiden Hälften seines Daily Telegraph zusammenklatschte, das Ergebnis der Länge nach faltete und damit auf den Tisch haute: einmal, zweimal, dreimal, und zur Sicherheit noch ein Schlag hinterher.

»Ich muß sprechen«, verkündete er dem Raum trotzig. »Das bin ich mir schuldig. Also spreche ich« – eine Grundsatzansage, die an ihn selbst gerichtet war und niemanden sonst.

Womit er auf den größten der drei fleischigen Männer Kurs nahm. Das Bella Vista hat als echt italienische Trattoria Terrazzoboden und keine Vorhänge. Die Gipsdecke ist niedrig und nackt. Wenn sie seine Absichtserklärung nicht gehört hatten, so hätten sie doch wenigstens das hallende Klacken seiner gewichsten Schuhe hören sollen, als er auf sie zuhielt, aber die dominante Dame ließ uns gerade in den Genuß ihrer Meinung über die moderne Skulptur kommen, die keine hohe war. Es bedurfte mehrerer lauter Sirs seitens des kleinen Herrn, bis seine Anwesenheit überhaupt wahrgenommen wurde.

»Sir«, wiederholte er, aus Gründen der Etikette strikt an das Oberhaupt der Tafel gewandt. »Ich bin hierhergekommen, um in Ruhe zu essen und meine Zeitung zu lesen« – er hielt das zerfledderte Etwas hoch wie ein Beweisstück vor Gericht. »Statt dessen finde ich mich einer wahren Redeflut ausgesetzt, die so laut ist, so banal, so aufdringlich, daß ich mich – jawohl« – das Jawohl in Würdigung der Tatsache, daß der Tisch ihm nun Aufmerksamkeit zollte –, »und eine Stimme ist darunter, Sir, eine Stimme vor allen anderen – ich werde nicht mit dem Finger zeigen, ich bin ein höflicher Mensch – Sir, ich fordere Sie auf, zügeln Sie sie.«

Doch nachdem er solches gesprochen hatte, räumte der kleine Herr nicht etwa das Feld. O nein, er blieb wacker stehen, wo er stand, wie ein mutiger Freiheitskämpfer vor dem Erschießungskommando, die Brust herausgestreckt, die polierten Hacken zusammengeschlagen, die malträtierte Zeitung säuberlich unterm Arm, dieweil die drei fleischigen Männer ihn ungläubig anstarrten und die gekränkte Gattin wiederum ihren Mann anstarrte.

»Darling«, zischelte sie. »Tu was.«

Tu was? Und was tue ich, wenn sie es tun? Die massigen Männer aus Ricky waren alte Athleten, soviel war klar. Die Wappen auf ihren Blazern verströmten heraldischen Glanz. Gut möglich, daß sie ehemalige Mitglieder eines Polizei-Rugby-Teams waren. Wenn es ihnen beliebte, den kleinen Herrn zu Brei zu schlagen, wie konnte ein einzelner unschuldiger brauner Zuschauer einschreiten, ohne selbst noch viel gründlicher zu Brei geschlagen und obendrein als Terrorverdächtiger verhaftet zu werden?

Letztlich taten die Männer gar nichts. Statt ihn zu Brei zu schlagen, seine Überreste in die Gosse zu werfen und die meinigen hinterher, musterten sie angelegentlich ihre sehnigen Pranken und versicherten einander in vernehmlichen Seitenbemerkungen, daß der arme Kerl offenkundig nicht ganz richtig im Kopf war. Ein Wahnsinniger. Vielleicht sogar eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Oder für sich selbst. Warum ruft nicht jemand einen Krankenwagen?

Was den kleinen Herrn anging, so kehrte der an seinen Tisch zurück, legte einen Zwanzig-Pfund-Schein darauf und schritt mit einem würdevollen »Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen, Sir« für den Fenstertisch und nicht einmal einem Blick für mich zur Tür hinaus, ein Koloß in Taschenformat, und ich blieb zurück und zog meine Vergleiche zwischen dem Mann, der »Ja, Liebes, das verstehe ich vollkommen« sagt und sein Coq au Vin in den Müll kippt, und dem,

der sich in die Löwengrube wagt, während ich dasitze und so tue, als läse ich meinen Cromwell.

* * *

Das zweite nachgewiesene Zeichen erhielt ich einen Abend später, am Dienstag. Ich hatte einen vierstündigen Einsatz zum Schutze unserer großen Nation hinter mir und war auf dem Heimweg nach Battersea, als ich zu meiner eigenen Verblüffung drei Stationen zu früh aus dem fahrenden Bus sprang und wie ein Wilder lossprintete, nicht quer durch den Park zum Prince of Wales Drive, was die logische Richtung gewesen wäre, sondern über die Brücke zurück nach Chelsea, von wo ich soeben gekommen war.

Warum, um Himmels willen? Gut, ich bin impulsiv. Aber was trieb mich da? Es war mitten im schlimmsten Stoßverkehr. Schon in normalem Tempo neben gestauten Autos herzugehen ist mir ein Greuel, gerade heutzutage. Diese Blicke hinter den Scheiben hervor, das ist etwas, dem ich mich nicht aussetzen muß. Aber zu rennen, in meinen besten Stadtschuhen mit Ledersohlen und Lederabsätzen mit Außenkanten aus Gummi, ein Mann in meinem Alter, mit meiner Hautfarbe und Statur und einem Aktenkoffer in der Hand – zu rennen, ohne um Hilfe zu rufen, in einem Affenzahn, manisch geradeaus schauend, Passanten anrempelnd vor lauter Eile – diese Art zu rennen ist zu jeder Tageszeit eine Verrücktheit. Und in der Stoßzeit schlechterdings selbstmörderisch.

Brauchte ich Bewegung? Keineswegs. Penelope hat ihren Privattrainer, ich habe meinen Morgenlauf im Park. Die einzige Erklärung, die ich mir für mein Verhalten liefern konnte, als ich den belebten Gehsteig entlang und über die Brücke jagte, war das angststarre Kind, das ich vom Oberdeck des Busses aus gesehen hatte. Es war ein Junge, sechs oder sieben, und er klebte auf halber Höhe an der Granitmauer, die die Straße vom Fluß trennt, mit den Fersen zur Wand, Arme ausgebreitet, das Gesicht seitwärts gedreht, weil er viel zu sehr Angst hat, um nach unten oder nach oben zu schauen. Unter ihm braust der Verkehr, und über ihm ist eine schmale Brüstung, wie geschaffen für ältere Jungen, die angeben wollen, und zwei sind jetzt eben dort oben und rufen höhnisch zu ihm hinunter, tänzeln herum und pfeifen und fordern ihn auf, doch raufzuklettern, wenn er sich traut. Aber er kann nicht, weil seine Höhenangst noch viel größer ist als die Angst vor den Autos und weil er weiß, daß es auf der anderen Seite, wenn er je oben ankäme, zwanzig Meter tief hinuntergeht zum Treidelpfad und zum Fluß, und ihm ist schwindlig, und er kann nicht schwimmen, deshalb renne ich, was das Zeug hält.