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Sintflutartige Regenfälle in Südindien. Schlammlawinen. Zahlreiche Opfer befürchtet. Und nun zum Cricket.

Fünf Uhr. Ich gehe die vorgeschriebene Meile, benutze jedoch gegen den Rat meines Ausbilders dasselbe Telefonhäuschen ein zweites Mal. Ich werfe eine Pfundmünze ein und halte die nächste bereit, gerate aber nur an Grace’ Mailbox. Wenn ich Latzi bin, sagt sie, soll ich sie nach 10 Uhr anrufen, dann wird sie allein im Bett liegen! Johlendes Gelächter. Wenn ich  Salvo bin, freut sie sich ebenfalls über meinen Anruf, und ich soll ihr eine Liebeserklärung für Hannah hinterlassen. Ich versuche es.

»Hannah, Schatz, ich liebe dich«, sage ich, füge aber aus Sicherheitsgründen lieber nicht hinzu: Ich weiß, was du getan hast, und es war richtig.

Durch Nebenstraßen gehe ich planlos zurück zu Mr. Hakims Pension. So viele Fahrräder sind unterwegs seit den Bombenanschlägen. Wie Geisterreiter surren sie an mir vorbei. Der namenlose grüne Transporter steht immer noch vor dem Tor. Er hat keinen Parkschein im Fenster. Zeit für die Sechs-Uhr-Nachrichten. Die Welt hat sich seit zwei Uhr nicht weitergedreht.

Ich versuche mich durch Essen abzulenken. In dem winzigen Kühlschrank finden sich die Hälfte der Pizza von vorgestern, Knoblauchwurst, Pumpernickel, Gewürzgurken, mein Marmite. Als Hannah frisch aus Uganda nach London gekommen war, hat sie mit einer deutschen Krankenschwester zusammengewohnt, daher ihre ursprüngliche Annahme, alle Engländer äßen Bockwurst und Sauerkraut. Und daher auch das silberne Päckchen Pfefferminztee in Mr. Hakims Kühlschrank. Nach bewährter Krankenschwesternart stellt Hannah alles in den Kühlschrank, egal, ob verderblich oder nicht. Was du nicht sterilisieren kannst, das kühle, lautet ihre Devise. Ich wärme die Butter an, damit ich sie besser verstreichen kann. Schmiere Marmite darauf. Esse langsam. Schlucke vorsichtig.

Die Nachrichten um sieben sind die gleichen wie um sechs Uhr. Kann es wirklich sein, daß die Welt seit geschlagenen fünf Stunden stillsteht? Ich gehe ins Internet und überfliege die Schlagzeilen des Tages.

Selbstmordattentate in Bagdad: vierzig Tote, Hunderte von Verletzten – oder andersherum? Der neuernannte Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen legt in weiteren fünfzig Punkten Widerspruch gegen Reformvorschläge ein. Der französische Präsident begibt sich ins Krankenhaus – oder wird aus dem Krankenhaus entlassen. Seine Beschwerden unterliegen der Geheimhaltungspflicht – aber es klingt so, als ob er ein schlimmes Auge hat. Unbestätigten Berichten aus der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa zufolge ist es im Osten des Landes zu spontan aufflammenden Kämpfen zwischen rivalisierenden Milizen gekommen.

Hannahs Regenbogenhandy trällert. Ich sprinte hinüber und laufe mit dem Telefon zurück zum Laptop.

»Salvo?«

»Hannah. Wunderbar Hi.«

Wie aus gutunterrichteten Kreisen in Kinshasa verlautet, macht die kongolesische Regierung »imperialistische Elemente in Ruanda« dafür verantwortlich. Ruanda weist die Vorwürfe zurück.

»Ist alles in Ordnung, Salvo? Ich liebe dich so.« Auf Französisch, der Sprache unserer Liebe.

»Mir geht’s gut. Bestens. Ich sehne mich nur so nach dir. Und wie geht es dir?«

»Ich lieb dich so sehr, daß es schon nicht mehr feierlich ist, Salvo. Grace sagt, sie hat noch nie erlebt, daß ein so normaler Mensch derart den Verstand verlieren kann.«

Aus dem Grenzgebiet zu Ruanda werden keine Unruhen oder ungewöhnlichen Verkehrsbewegungen gemeldet.

Ich kämpfe an drei Fronten zugleich, was Maxie bestimmt nicht gutheißen würde. Während ich versuche, gleichzeitig zu lesen und mich zu unterhalten, überlege ich, ob ich ihr sagen soll, was ich soeben erfahre, obwohl ich gar nicht weiß, ob es um unseren Krieg geht oder um einen ganz anderen.

»Weißt du was, Salvo?«

»Was denn, mein Liebling?«

»Seit ich dich kenne, habe ich drei Pfund abgenommen.«

Das muß ich erst einmal verarbeiten. »Daran ist die ungewohnte sportliche Betätigung schuld!« rufe ich dann. »Daran bin ich schuld!«

»Salvo?«

»Ja?«

»Ich habe etwas getan, Salvo. Etwas Schlimmes, was ich dir sagen muß.«

Ein Mitarbeiter der britischen Botschaft in Kinshasa hat Gerüchte um eine von Briten angeführte Söldnertruppe in der Region als »haltlos und absurd« bezeichnet.

Jawohl! Genau! Bis zu dem Coup sind es schließlich noch ganze neun Tage! Oder hat Brinkley etwa den Startschuß gegeben, kaum daß ich zur Tür hinaus war?

»Nein. Du hast nichts Schlimmes getan. Es ist alles in Ordnung. Wirklich! Vollkommen in Ordnung. Ich weiß Bescheid. Du kannst es mir erzählen, wenn du wieder da bist!«

Im Hintergrund schrille Kinderstimmen.

»Ich muß wieder rein, Salvo.«

»Natürlich! Geh ruhig! Ich liebe dich!«

Ende der Zärtlichkeiten. Ende des Gesprächs.

Vier Schweizer Flugzeugmechaniker, die ins Kreuzfeuer geraten sind, haben den UN-Kommandanten in Bukavu um Schutz ersucht.

Ich sitze im Korbsessel, jetzt wieder das Radio auf dem Tisch neben mir, und studiere Mrs. Hakims Tapete, während Gavin, unser Zentralafrikakorrespondent, das bis dato Geschehene zusammenfaßt:

Die kongolesische Regierung in Kinshasa behauptet, mittels einer brillanten Sicherheitsoperation, die auf erstklassiger Geheimdienstarbeit beruht, einen von Ruanda unterstützten Putschversuch vereitelt zu haben.

Kinshasa verdächtigt Frankreich und Belgien der Mittäterschaft, will aber auch die Beteiligung weiterer ungenannt bleibender westlicher Mächte nicht ausschließen.

Zweiundzwanzig Mitglieder einer afrikanischen Fußballmannschaft, die nach der Entdeckung eines geheimen Arsenals mit leichten Waffen und schweren Maschinengewehren am Flughafen von Bukavu festgenommen wurden, werden momentan einer Befragung unterzogen.

Meldungen über Opfer liegen nicht vor. Über das Herkunftsland der Gastmannschaft ist nichts bekannt.

Die Schweizer Botschaft in Kinshasa lehnt zum jetzigen Zeitpunkt jede Stellungnahme zu den vier Schweizer Flugzeugmechanikern ab. Anfragen hinsichtlich ihrer Reisedokumente seien an Bern weitergeleitet worden.

Danke, Gavin. Ende der Meldung. Ende der letzten Zweifel.

Mrs. Hakims Aufenthaltsraum ist ein Prachtgemach mit tiefen Sesseln und einem Ölgemälde von einem Paradiessee, an dessen Ufer Huris tanzen. In einer Stunde werden es sich hier kettenrauchende asiatische Geschäftsleute gemütlich machen, um sich auf einem cadillacgroßen Fernseher Bollywood-Videos anzusehen, aber noch strahlt er die parfümierte Stille eines Bestattungsinstituts aus, und ich sehe mir die ZehnUhr-Nachrichten an. Männer in Ketten verändern ihre Größe. Benny ist geschrumpft. Anton wirkt stämmiger. Spider ist um gut einen halben Kopf gewachsen, seit er mit seiner improvisierten Kochmütze die Teller ausgeteilt hat. Aber der Star der Show ist weder der pakistanische UN-Kommandant mit seinem blauen Helm noch der Oberst der kongolesischen Armee mit seinem Stöckchen, sondern unser Skipper Maxie in einer hellbraunen Hose ohne Gürtel und einem durchgeschwitzten Hemd, dem ein Ärmel fehlt.

Die Hose ist das einzige, was von dem khakifarbenen Multifunktionsanzug übriggeblieben ist, in dem ich ihn das letzte Mal gesehen habe, als er mir den braunen Umschlag mit den siebentausend Dollar Honorar aushändigte, die er dem Syndikat in der Güte seines Herzens abgetrotzt hatte. Ohne die Bogey-Brille mit den dicken Gläsern fehlt seinem Gesicht das Charismatische, das mich so in Bann gezogen hat, aber andererseits ist so der Effekt sogar noch stärker, denn jetzt trägt es einen Ausdruck zähen Durchhaltens: Niemals wird er sich geschlagen geben, ganz gleich, wie lange die Auspeitschung dauert! Die kugelsicheren Hände sind gefesselt und vor ihm gekreuzt wie Hundepfoten. An dem einen Fuß trägt er einen Wüstenstiefel, der andere ist nackt, passend zu seiner nackten Schulter. Doch es liegt nicht an dem fehlenden Stiefel, daß er so langsam geht, sondern an den Fußketten, die für einen Mann seiner Größe zu kurz sind und, so mein Eindruck, auch zu stramm. Er sieht mir genau in die Augen und befiehlt mir, wenn ich seine aufgebrachten Kieferbewegungen richtig deute, mich zu verpissen, aber dann wird mir klar, daß er nicht mich meint, sondern den Menschen, der ihn filmt.