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Aber als ich die Stelle erreiche, schweißgebadet, keuchend, was sehe ich? Kein Kind, erstarrt oder nicht erstarrt. Und die Örtlichkeit hat eine Verwandlung durchgemacht. Keine Granitbrüstung. Keine schwindelerregende Gratwanderung mit dahinbrausenden Autos auf der einen Seite und der schnellfließenden Themse auf der anderen. Und mitten auf der Kreuzung eine mütterliche Polizistin, die den Verkehr regelt.

»Sie dürfen mich nicht ansprechen, junger Mann«, sagt sie, indem sie den Arm hebt.

»Haben Sie drei Kinder gesehen, die hier grade herumgekraxelt sind? Absolut lebensgefährlich.«

»Hier nicht, junger Mann.«

»Ich hab sie gesehen, ich schwör’s Ihnen. So ein Kleiner, der an der Mauer da feststeckte.«

»Ich werd Sie gleich festnehmen müssen, junger Mann. Los, ziehen Sie ab.«

Also zog ich ab. Ich ging zurück über die Brücke, die ich gar nicht erst hätte überqueren sollen, und den ganzen Abend über, während ich darauf wartete, daß Penelope heimkam, ließ mich dieser angststarre Junge in seiner selbstgemachten Hölle nicht los. Und am Morgen, als ich auf Zehenspitzen ins Bad schlich, um sie nicht zu wecken, verfolgte er mich immer noch, der Junge, der nicht da war. Und während ich den Tag hindurch für ein niederländisches Diamantenkonsortium dolmetschte, spukte er mir weiter im Kopf herum, in dem von mir unbemerkt auch sonst eine Menge vorging. Und er spukte nach wie vor dort drinnen, die Arme ausgestreckt, die Fingerknöchel gegen die Granitmauer gepreßt, als ich mich am Abend darauf um 19.45 Uhr auf dringendes Ersuchen des Nordlondoner Bezirkskrankenhauses in der Abteilung für Tropenkrankheiten einfand, wo ein sterbender Afrikaner unbestimmbaren Alters sich weigerte, auch nur ein Wort in irgendeiner Sprache zu sprechen, die nicht sein heimatliches Kinyarwanda war.

* * *

Blaue Nachtlichter haben mich durch endlose Korridore geleitet. Schmucke Wegweiser haben mir verraten, welchem Gang ich folgen muß. Um einzelne Betten sind Vorhänge gezogen, das sind die schwersten Fälle. Das unsrige ist solch ein Bett. Auf seiner einen Seite kauert Salvo, auf der anderen, durch nichts von mir getrennt als durch die Knie eines Sterbenden, eine Diplomkrankenschwester. Und diese Schwester, die mir zentralafrikanischer Herkunft zu sein scheint, hat Kenntnisse und Verantwortung über die der meisten Ärzte hinaus, auch wenn sie kaum danach aussieht mit ihrem geschmeidigen, stolzen Gang, dem Schildchen mit dem überraschenden Namen Hannah auf ihrer linken Brust, dem Goldkreuz in der Halsbeuge und dem hochgewachsenen schlanken Körper, der so unnahbar wirkt hinter den Knöpfen der blau-weißen Schwesterntracht und doch, wenn sie aufsteht und zwischen den Betten umhergeht, so biegsam wie der einer Tänzerin. Sauber geflochtene Zopfreihen ziehen sich von ihrer Stirn nach hinten, wo das Haar sich kräuseln darf, der Zweckmäßigkeit halber jedoch kurzgeschnitten ist.

Und eigentlich geht gar nichts vor zwischen uns, dieser Diplomschwester Hannah und mir, außer daß wir einander für immer längere Sekundenbruchteile ansehen, während sie in fürsorglich-strengem Ton ihre Fragen an unseren Patienten richtet und ich diese Fragen getreulich ins Kinyarwanda übersetze und wir beide warten – manchmal viele Minuten lang, scheint mir –, daß der arme Mann eine Antwort murmelt, in der Sprache seiner afrikanischen Kindheit, die für ihn offenbar die letzte seiner Erinnerungen sein soll.

Doch dies ist nur einer von vielen Akten der Nächstenliebe, die Diplomschwester Hannah ihm erweist, gemeinsam mit einer zweiten Schwester, Grace, die mit jamaikanischem Akzent spricht und die am Kopfende des Bettes steht, sein Erbrochenes wegwischt und seine Infusionen und Schlimmeres kontrolliert, und auch Grace ist ein guter Mensch und, aus dem Ton und den Blicken zwischen den beiden zu schließen, Hannahs Kameradin und Vertraute.

Und ich sollte dazusagen, daß ich jemand bin, der Krankenhäuser haßt, wirklich haßt, und der eine tiefsitzende Aversion gegen die Gesundheitsindustrie hat. Blut, Spritzen, Bettpfannen, Wägelchen mit Scheren darauf, Desinfektionsgerüche, kranke Menschen, tote Hunde und überfallene Dachse am Straßenrand, schon die Vorstellung davon versetzt mich in Panik, wie es bei wohl jedem Mann der Fall wäre, der in einer Reihe höchst unhygienischer afrikanischer Buschkrankenhäuser um seine Mandeln, den Blinddarm und die Vorhaut erleichtert worden ist.

Und ich bin ihr zuvor schon begegnet, dieser Diplomschwester. Nur ein einziges Mal. Dennoch ist sie mir, wie mir jetzt klar wird, über drei Wochen hinweg im Gedächtnis geblieben, und dies nicht nur als der gute Geist dieses trostlosen Ortes. Wir haben sogar miteinander gesprochen, auch wenn sie sich vermutlich nicht erinnert. Bei meinem allerersten Besuch hier sollte sie für mich das Formular unterzeichnen, mit dem ich nachweisen muß, daß ich meine Aufgaben zur Zufriedenheit meiner Auftraggeber erfüllt habe. Sie lächelte, legte den Kopf schief, als müßte sie erst überlegen, ob sie wirklich in aller Ehrlichkeit bestätigen konnte, daß sie zufrieden mit mir war, bevor sie beiläufig einen Filzstift hinterm Ohr hervorzog. Die Geste, die von ihrer Seite gewiß völlig unbewußt war, wirkte in mir nach. In meiner überhitzten Phantasie erschien sie mir als Vorstufe zum Ausziehen.

Aber an diesem Abend sind mir solch ungehörige Gedanken fern. Dieser Abend steht ganz im Zeichen der Arbeit, und wir sitzen am Bett eines Sterbenden. Und Hannah, die professionelle Pflegerin, die wahrscheinlich jeden Tag schon vor Mittag an mindestens drei Sterbebetten sitzt, hat sämtliche Gefühle, die hier nichts zu suchen haben, weit weg verbannt, also mache ich es genauso.

»Fragen Sie ihn nach seinem Namen, bitte«, befiehlt sie mir in einem Englisch, in dem der Hauch eines französischen Akzents mitschwingt.

Sein Name, wie er uns nach längerem Nachsinnen wissen läßt, ist Jean-Pierre. Und zur Sicherheit schiebt er noch nach, so grimmig, wie es seine geschwächte Verfassung zuläßt, daß er ein Tutsi und stolz darauf ist, eine Zusatzinformation, die Hannah und ich in schweigendem Einverständnis übergehen, nicht zuletzt deshalb, weil die Vermutung ohnehin nahelag: Mit seinen hohen Backenknochen und dem langen Hinterkopf ist Jean-Pierre – im Gegensatz zu vielen seiner Stammesgenossen – trotz aller Schläuche ein Bilderbuch-Tutsi.

»Jean-Pierre, und wie weiter?« fragt sie mit der gleichen Strenge wie vorhin, und ich übersetze.

Kann Jean-Pierre mich nicht hören oder zieht er es vor, keinen Nachnamen zu haben? Die Pause, in der wir auf seine Antwort warten, gibt uns Gelegenheit zu unserem ersten langen Blick, oder zumindest einem Blick, der zu lange währt für ein bloßes Sich-Vergewissern, daß der andere auch zuhört – zumal wir beide schweigen, und Jean-Pierre sowieso.

»Fragen Sie ihn bitte, wo er wohnt«, sagt sie, wobei sie ihre Kehle diskret freiräuspert von einer Beklemmung, wie auch ich sie verspüre, nur daß sie mich diesmal zu meiner Überraschung und meinem Entzücken als Landsmann anspricht, auf Swahili. Und als wäre das noch nicht Glückes genug, spricht sie mit dem köstlich vertrauten Akzent des Ostkongo!

Aber ich bin zum Arbeiten hier. Die Schwester hat unserem Patienten eine Frage gestellt, also muß ich sie übersetzen. Das tue ich. Und dann übersetze ich seine Antwort darauf, übersetze sie aus Jean-Pierres Kinyar-wanda direkt in Hannahs tiefbraune Augen, in ein Swahili, dem ich fast ums Haar die gleiche Färbung verleihe, wie ihres sie hat.

»Ich wohne auf der Hampsteader Heide«, teile ich ihr mit und wiederhole Jean-Pierres Worte so exakt, als wären es unsere eigenen, »unter einem Busch. Und dahin gehe ich zurück, wenn ich rauskomme aus diesem« – Pause – »Loch« – das Epitheton, das er diesem Loch verleiht, unterschlage ich aus Anstandsgründen lieber. »Hannah«, fahre ich fort, auf Englisch nun, vielleicht um ein klein wenig Druck wegzunehmen. »Bitte. Wer sind Sie? Woher kommen Sie?«