Maxie dicht auf den ungleichen Fersen folgen Anton und Benny, aneinander und an ihren Skipper gekettet. Anton hat links im Gesicht eine Schramme, vermutlich eine Folge unbotmäßigen Verhaltens. Benny wirkt deshalb so viel kleiner, weil ihn seine Ketten nach unten ziehen und zu einem lächerlichen Trippelschritt zwingen. Ein sausender Hieb mit einer panga hat ihm den grauen Pferdeschwanz zum Stoppelfeld abgemäht, wodurch er aussieht wie auf dem Weg zur Guillotine.
Hinter Benny kommt Spider, Tondiebkomplize und Bastler von Elektroschockern, gefesselt, aber aufrecht. Er durfte seine Mütze behalten, was ihm einen kecken Anstrich verleiht. Akrobat, der er ist, tut er sich weniger schwer als seine trippelnden Gefährten. Zusammen bilden die vier eine fußlahme Polonäse, hin und her ruckend nach einem Rhythmus, mit dem sie nicht klarkommen.
Hinter den Weißen trotten die Fußballspieler, an die zwanzig Mann, eine immer kleiner werdende Kolonne trauriger schwarzer Schatten: alles Veteranen, alle teamerprobt, die besten Kämpfer der Welt. Aber als ich nervös nach einem Dieudonné oder einem Franco Ausschau halte für den Fall, daß sie im Getümmel der gescheiterten Operation mit ins Netz gegangen sind, kann ich zu meiner Erleichterung weder den schweren Leib des humpelnden alten Haudegens noch die geisterhafte Gestalt des ausgezehrten Banyamulenge-Führers unter den Gefangenen entdecken. Nach Haj suche ich erst gar nicht; mein Gefühl sagt mir, daß er nicht da sein wird. Ein Informationshäppchen, das uns die Kommentatoren genüßlich servieren, lautet, daß es Maxie – bisher nur bekannt als »der mutmaßliche Rädelsführer« – geschafft hat, bei seiner Festnahme noch schnell seine SIM-Karte zu verschlucken.
Ich kehre auf unser Zimmer zurück und widme mich erneut dem Studium von Mrs. Hakims Tapete. Im Radio wird eine Unterstaatssekretärin im Außenministerium interviewt:
»Wir haben eine blütenweiße Weste, Andrew«, antwortet sie in dem forschen Ton, dessen sich New Labour so gern befleißigt, wenn die Partei sich betont offen geben will. »Die britische Regierung ist in keiner Weise in die Sache verwickelt, so viel steht fest. Gut, der eine oder andere der Männer ist britischer Staatsangehöriger, aber ich bitte Sie! Ehrlich gesagt hätte ich erwartet, daß Sie uns etwas mehr zutrauen. Nach unserem aktuellen Erkenntnisstand handelt es sich hier um eine stümperhaft verpfuschte Privataktion. Und wenn Sie mich noch so oft fragen, von wem, ich kann es Ihnen nicht sagen, denn ich weiß es nicht! Was ich Ihnen sagen kann, ist, daß die Sache durch und durch amateurhaft aufgezogen war, und halten Sie von uns, was Sie wollen, Amateure sind wir nicht. Ja, auch ich trete für die Redefreiheit ein, Kevin. Guten Abend!«
Maxie hat einen Namen bekommen. Eine seiner Exfrauen hat ihn im Fernsehen erkannt. Ein lieber Mann, der leider nicht erwachsen werden konnte, Pfarrerssohn. Offiziersausbildung an der Militärakademie in Sandhurst, Betreiber einer Bergsteigerschule in Patagonien, unter Vertrag bei den Vereinigten Arabischen Emiraten, sagt sie munter. Ein kongolesischer Akademiker, der sich selbst »der Lichtbringer« nennt, wird als Kopf der Verschwörung verdächtigt. Er ist inzwischen untergetaucht. Interpol hat die Ermittlungen aufgenommen. Über Lord Brinkley und sein multinational finanziertes, anonymes Syndikat kein Wort, ebensowenig darüber, daß es dieses Syndikat auf die ostkongolesischen Bodenschätze abgesehen hat. Kein Wort über zwielichtige Libanesen, unabhängige Berater und deren Freunde. Waren vermutlich alle beim Golfspielen.
Ich liege auf dem Bett und höre zu, wie Mrs. Hakims Messinguhr die viertel und die halbe Stunde schlägt. Ich bin Maxie, den sie an einen Pfahl gekettet haben. Es wird Morgen, die Sonne geht auf, und ich liege immer noch im Bett, ohne Ketten. Plötzlich ist es sieben Uhr, dann acht. Die Uhr schlägt Viertelstunde um Viertelstunde. Das Regenbogenhandy trällert.
»Salvo?«
Ja, Grace.
Warum sagt sie nichts? Weil sie das Handy an Hannah weitergibt? Aber warum nimmt Hannah es dann nicht? Im Hintergrund verstümmelte Geräusche. Eine befehlsgewohnte nordenglische Frauenstimme ruft einen Männernamen. Wer um alles in der Welt ist Cyril Ainley? Ich kenne weder einen Cyril noch einen Ainley. Wo sind wir? Im Krankenhaus? Irgendwo in einem Wartezimmer? Es sind nur Sekunden, Millisekunden, in denen ich alle Töne zusammenklaube, derer ich habhaft werden kann.
»Bist du das, Salvo?«
Ja, Grace. Ich bin’s, Salvo. Ihre Stimme ist sehr gedämpft. Ob da, wo sie ist, keine Telefone erlaubt sind? Ich höre andere Leute telefonieren. Sie hat den Mund direkt über der Sprechmuschel, der Klang ist verzerrt. Sie hat die Hand um den Hörer geschlossen. Dann plötzlich sprudelt es aus ihr hervor: ein atemloser, wirrer Monolog, den sie nicht anhalten könnte, selbst wenn sie es wollte, und ich erst recht nicht.
»Die haben sie, Salvo, weiß der liebe Gott, wer die sind, ich bin auf der Polizei und mach eine Anzeige, aber ich kann nicht lange reden, sie haben sie einfach mitgenommen, vom Bürgersteig weg entführt, vor der Kirche, ich stand direkt daneben, wir haben die Kids abgeliefert und Amelia hatte einen Koller, und ihre Mum hat gesagt, wir hätten sie verwöhnt, und Hannah und ich sind zusammen den Berg runtergegangen und wir waren echt sauer auf diese undankbare Zicke, und plötzlich hält dieser Wagen an und zwei Kerle steigen aus, einer schwarz und der andere weiß, ganz normale Typen, Salvo, und eine weiße Fahrerin, die die ganze Zeit stur gradaus durch die Windschutzscheibe geguckt hat und nicht ein einziges Mal zu uns rüber, jedenfalls steigen die Typen aus, und der Schwarze sagt Hi, Hannah, und legt ihr den Arm um, wie wenn er ein alter Freund von ihr war, und schiebt sie in den Wagen, und schon sind sie weg, und jetzt will diese nette Polizistin hier von mir wissen, was das für ein Auto war, und sie zeigt mir Photos von Autos, und das geht jetzt schon seit Stunden, und Hannah hat kein Wort mehr zu mir gesagt, wie denn auch, und jetzt sagt die Polizei, vielleicht ist sie freiwillig mit den Typen mitgegangen, vielleicht hatte sie was mit dem Schwarzen oder wollte sich auf dem Rücksitz mit den beiden ein paar Mäuse nebenbei verdienen, als ob Hannah so was machen würde, sie haben sie einfach von der Straße weg entführt, und die nette Polizistin sagt na ja, vielleicht ist sie ja eine Professionelle, und vielleicht sind Sie auch eine von der Sorte, Grace, und man darf der Polizei nicht ihre kostbare Zeit stehlen, dagegen gibt es sogar ein Gesetz, Grace, vielleicht sollten Sie da mal dran denken, und da bin ich ausgerastet, warum hängen Sie nicht gleich ein Schild auf, hab ich sie gefragt, wo draufsteht, daß Schwarze hier nicht ernstgenommen werden, und jetzt redet sie mit allen andren, bloß nicht mehr mit mir.«
»Grace!«
Ich sagte es noch einmal. Grace. Drei-, viermal. Dann stellte ich ihr Fragen wie einem Kind, ganz ruhig, um sie nicht noch mehr zu verängstigen. Was ist passiert? Ich meine nicht jetzt, ich meine in Bognor, als ihr zusammen wart. An dem ersten Abend, als sie mit den Großen im Kino war. Das hast du mir doch erzählt. Was ist da passiert?
»Es sollte eine Überraschung für dich werden, Salvo.«
Was für eine Überraschung?
»Sie hat dir was aufgenommen, eine Audiodatei, hat sie gesagt, irgendwelche Musik, die sie toll findet und dir schenken wollte. Es sollte ein Geheimnis sein.«
Und wo hat sie das machen lassen, Grace?
»In einem Laden, von dem Latzi ihr erzählt hat, irgendwo einen Berg rauf, ruhige Gegend. Wir haben Latzi im Studio angerufen. Diese Musikfreaks, die haben nämlich überall Freunde, Salvo. Latzi kannte einen, der kannte einen in Bognor, und da ist Hannah dann hingegangen, während ich dich abgewimmelt hab, mehr war nicht. Großer Gott, Salvo, was um alles in der Welt geht hier vor?«
Ich lege auf. Natürlich, Grace. Ich danke dir. Und nachdem sie die Bänder fünf und sechs in eine Audiodatei umgewandelt hatte, brauchte sie nur noch einen Computer, den ihr garantiert Latzis Freund zur Verfügung stellen konnte, und schon gingen die Aufnahmen an Haj, zu dessen Erbauung und als Schützenhilfe im Gespräch mit seinem Vater, den er so achtet. Nur daß sie sich die Mühe hätte sparen können, weil die ganze Operation sowieso längst den Bach runtergegangen war und weil die Meute der Lauscher und der Beobachter und all der anderen Leute, die ich irrtümlich für meine Freunde gehalten hatte, sich bereits zusammenrottete, um sie zur Strecke zu bringen.