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Wer einen Sünder fangen will, so Pater Michael, der muß den Sünder in sich selbst suchen, und ich brauchte nur wenige Augenblicke dazu. Ich ging zum Kleiderschrank, wo meine Lederjacke hing. Ich holte mein Handy heraus, um die Mailbox abzuhören, und schaltete es ein. Und tatsächlich, es wartete eine Nachricht auf mich. Aber diesmal war sie nicht von Penelope und auch nicht von Barney oder von Hannah. Sie war von Philip. Und Philip sprach nicht in seiner liebenswürdigen, einschmeichelnden Stimme, sondern in dem schneidend kalten Ton, mit dem ich schon gerechnet hatte:

Ich gebe Ihnen eine Nummer, die Sie anrufen können,  Salvo. Tag und Nacht. Und ich möchte Ihnen einen Deal vorschlagen. Je eher Sie sich melden, desto angenehmer für alle Beteiligten.

Ich wählte die Nummer und bekam Sam an den Apparat. Sie nannte mich Brian, wie in alten Zeiten. Haben Sie einen Stift, Brian, mein Lieber? Und einen Block? Aber natürlich, dumme Frage. Hier ist die Adresse.

19

Ich will gleich gestehen, daß mein Vorgehen in den folgenden zehn Minuten in keiner Weise rational war, sondern vielmehr unkontrolliert zwischen dem Manischen und dem Bürokratischen hin und her pendelte. An heftigere Gefühle wie Wut oder Zorn kann ich mich nicht erinnern, auch wenn spätere Handlungen darauf hindeuten, daß solche und ähnliche Emotionen in mir brodelten. Mein erster Gedanke – einer meiner vielen ersten Gedanken – galt meinem Wirt und meiner Wirtin, den Hakims, zu denen Hannah und ich eine sehr herzliche Beziehung aufgebaut hatten, die auch ihre beiden Kinder mit einschloß, den kleinen Rabauken Rashid, Hannahs Liebling, und die zurückhaltendere Diana, die sich ausdauernd hinter der Küchentür versteckte in der Hoffnung, daß ich einmal vorbeikam. Deshalb klaubte ich einen dicken Packen von meinem Sündengeld zusammen und drückte es der verdutzten Mrs. Hakim in die Hand.

Ein nächster erster Gedanke war, daß ich so bald keinen Fuß mehr in dieses Haus setzen würde, wenn überhaupt je wieder, weshalb ich unser Zimmer so tadellos hinterlassen wollte, wie es unter den Umständen möglich war. In meiner extremen Ordnungsliebe – die Penelope, angeleitet von Paula, als analfixiert bezeichnet hatte – zog ich das Bett ab, schüttelte die Kopfkissen auf, holte die Handtücher aus dem Badezimmer und legte das Wäschebündel in eine Ecke.

Noch mehr Sorgfalt verwandte ich auf meine Kleidung – zu frisch war der Eindruck von Maxie und seinen Männern, die augenscheinlich dazu verdammt waren, sich für viele Jahre mit nur einer Montur begnügen zu müssen. Ich entschied mich daher für eine robuste Cordjeans, die Lederjacke, auf die noch eine Weile Verlaß sein würde, Turnschuhe, meine Pudelmütze und so viele Hemden, Socken und Unterhosen, wie mit etwas Gewalt in meinen Rucksack paßten. Außerdem steckte ich meine kostbarsten persönlichen Gegenstände ein, darunter das gerahmte Photo von Noah.

Als allerletztes holte ich die Umhängetasche aus ihrem Versteck hinter dem Kleiderschrank hervor, und nachdem ich sie noch einmal durchsucht und mir das Fehlen der beiden Bänder bestätigt hatte – denn im Verlauf der letzten achtundvierzig Stunden hatten Phantasie und Realität etliche Male hinter meinem Rücken die Plätze getauscht –, schloß ich die Tür unseres kurzlebigen kleinen Paradieses, verabschiedete mich rasch von den verdatterten Hakims und stieg in das Taxi, das bereitstand, um mich zu der Adresse in Regent’s Park zu befördern, zu der Sam mich einbestellt hatte.

Meine Rekonstruktion dessen, was nun folgt, ist so akkurat, wie es mein Gedächtnis zuläßt – immer unter Berücksichtigung der Tatsache, daß ich zu der Zeit weder im Vollbesitz meines Sehvermögens noch meiner sonstigen Kräfte war. Wir hielten vor einem eleganten Haus im Albany Crescent NW1 – für das man gut und gern mehrere Millionen hätte hinblättern müssen –, und das erste, was ich sah, waren zwei junge Männer in Trainingsanzügen, die sich im Vorgarten einen Medizinball zuwarfen. Als ich ausstieg, hörten sie auf zu spielen, drehten sich um und beäugten mich neugierig. Ohne mich durch ihr Interesse beirren zu lassen, bezahlte ich in aller Ruhe das Taxi, legte noch ein großzügiges Trinkgeld obendrauf und ging zum Tor, woraufhin mich der näher bei mir stehende der beiden lässig fragte, ob er mir behilflich sein könne.

»Schon möglich«, antwortete ich ebenso munter. »Ich hätte gern Philip in einer persönlichen Angelegenheit gesprochen.«

»Dann sind Sie hier richtig, Sportsfreund«, antwortete er und bemächtigte sich mit übertriebener Höflichkeit meines Rucksacks, während mir der zweite Knabe die Umhängetasche abnahm, so daß mich nichts mehr in meiner Bewegungsfreiheit einschränkte. Der erste schritt auf dem gekiesten Weg zum Eingang und hielt mir die Tür auf, der zweite reihte sich, ein Liedchen pfeifend, hinter uns ein. Unser ungezwungener Gesprächston ist schnell erklärt. Es waren dieselben blonden Knaben, die in stramm durchgeknöpften Jacketts am Berkeley Square hinter dem Empfang gestanden hatten. Das heißt, sie kannten mich als einen Duckmäuser. Ich war das zahme Männlein, das von Bridget bei ihnen abgeliefert worden war. Das ihnen auf Befehl die Reisetasche ausgehändigt und gehorsam auf der Galerie gewartet hatte, bis es hinter Maxie davontrotten durfte. Der Psychologie ihres Gewerbes entsprechend hatten sie mich als zahnlosen Underdog eingestuft. Damit hatte ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite.

Als wir das Wohnzimmer betraten, war mein Vordermann einen guten Schritt voraus, und er wurde von meinem Rucksack behindert. Von Natur aus großspurig, ging er federnd und leicht, auch rechnete er mit nichts Bösem. Ein kräftiger Stoß reichte, um ihn zu fällen. Der Knabe hinter mir war noch damit beschäftigt, die Haustür zu schließen. Am Berkeley Square war mir seine mürrische Selbstgefälligkeit aufgefallen. Auch heute war sie nicht zu übersehen. Vielleicht wußte er, daß er sich mit der Umhängetasche den ersten Preis gesichert hatte. Ein gutgezielter Tritt in die Weichteile, und schon war es mit seiner Arroganz vorbei.

Damit war der Weg zu Philip frei. Mit einem einzigen Satz war ich bei ihm, legte ihm die Hände um den Hals und rang mit seinen Doppelkinnen. Welchen höheren Zweck ich mit dieser Aktion verfolgte, weiß ich bis heute nicht. Ich erinnere mich, daß ich auf die hellbraunen Backsteine des offenen Kamins hinter ihm sah und mit dem Gedanken spielte, sein schönes weißes Haupt dagegenzuschmettern. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Baumwollhemd und eine teure Krawatte aus geflammter roter Seide, die ich erfolglos als Würgeschlinge einzusetzen versuchte.

Ob ich ihn hätte erdrosseln können? Der Teufel ritt mich heftig genug, wie mein seliger Vater gesagt hätte, doch dann setzte mich einer der Knaben außer Gefecht, womit, sah ich nicht, aber ein Totschläger war es mindestens. Jetzt, drei Monate später, habe ich – neben anderen Abschürfungen – immer noch eine hühnereigroße Beule links am Hinterkopf. Als ich wieder zu mir kam, stand Philip gesund und munter vor dem erwähnten Kamin, und neben ihm eine würdige grauhaarige Dame in Tweedkostüm und praktischen Schuhen, die ich, noch bevor sie zum erstenmal »Brian, mein Lieber« sagte, augenblicklich als Sam erkannte. Sie war die archetypische Tennisschiedsrichterin, die in Wimbledon auf dem Hochstuhl sitzt und die Spielerinnen sechs Fuß unter ihr ermahnt, doch bitte an ihre Manieren zu denken.

Das waren meine ersten Eindrücke, als ich erwachte. Zunächst wunderte ich mich, daß die beiden blonden Knaben nirgendwo zu sehen waren, aber als ich den Kopf so weit wie mir möglich drehte, erspähte ich sie durch die offene Tür. Sie saßen auf der anderen Seite des Korridors und sahen fern, ohne Ton. Es war ein Cricketländerspiel, und die Australier lagen aussichtslos zurück. Als ich den Kopf in die andere Richtung drehte, saß da zu meinem Erstaunen ein Engel, der über meine guten und schlechten Taten Buch führte. Er saß an einem Schreibtisch und zwar im Erker, den ich jedoch im ersten Moment für den Erker in unserem Zimmer in Mr. Hakims Pension hielt. Sonnenschein umflutete ihn wie eine himmlische Erscheinung, trotz seiner Halbglatze und der Brille. Sein Tisch war Onkel Henrys Falttisch, bei dem man die gekreuzten Beine einklappen konnte, bevor man sich in die nächste Schlacht stürzte. Wie Philip trug er einen Anzug, nur daß es bei ihm die abgewetzte Chauffeursvariante war, und er beugte sich mit krummem Rücken über den Tisch wie ein Schreiber aus einem Dickens-Roman, der sich keinen Schlendrian nachsagen lassen will.