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Für Philip ist die Sache damit erledigt, er nimmt meine Umhängetasche, macht sie auf und legt die Stenoblöcke und Bänder abgezählt auf den Tisch.

»Wunderbar.« Er klingt wie ein Zauberer, der sich an seinem eigenen Trick begeistert. »Plus die beiden von Hannah ergibt sieben. Damit wären wir komplett. Es sei denn, Sie hätten Kopien gemacht. Dann wäre Ihnen wirklich nicht mehr zu helfen. Gibt es Kopien?«

Plötzlich bin ich so schläfrig, daß er meine Antwort nicht verstehen kann, und ich muß sie wiederholen, vermutlich wegen der Mikrophone.

»Wäre zu gefährlich gewesen«, lalle ich noch einmal und versuche, wieder einzuschlafen.

»Und ich darf davon ausgehen, daß Sie nur das eine Exemplar von J’accuse! hatten? Den Ausdruck, den Sie Thorne gegeben haben?« fährt er fort, um auch die letzten Einzelheiten noch rasch unter Dach und Fach zu bringen.

Ich muß wohl genickt haben.

»Gut. Dann brauchen wir also nur noch Ihre Festplatte zu zertrümmern«, sagt er erleichtert und winkt die blonden Knaben aus dem Korridor herein, die mich losbinden, aber fürs erste auf dem Boden liegenlassen, bis mein Kreislauf wieder in Schwung kommt.

»Wie geht es eigentlich Maxie?« erkundige ich mich, um ihm vielleicht wenigstens ein schamhaftes Erröten auf die faltenlosen Wangen zu zaubern.

»Ach ja, der arme Maxie. Zu schade um ihn!« seufzt Philip, als hätte ich ihn an einen alten Freund erinnert. »Der Beste in der ganzen Branche, sagen alle – nur leider so halsstarrig! Und wie dumm von ihm, einen Fehlstart hinzulegen.«

»Sie meinen, dumm von Brinkley«, schlage ich vor, aber der Name sagt ihm nichts.

Es ist ein ziemlicher Akt, mich wieder auf die Beine zu stellen. Nach dem Schlag auf den Kopf bin ich schwerer als vorher, und ein Knabe reicht nicht aus. Sobald ich mich aufrecht halten kann, baut sich Arthur vor mir auf und zieht sehr amtlich sein Jackett stramm. Er greift in die Innentasche und holt einen braunen Briefumschlag mit dem Aufdruck On Her Majesty’s Service hervor. Ich lasse ihn mir widerstandslos in die Hand drücken.

»Sie haben diesen Bescheid in Anwesenheit von Zeugen entgegengenommen«, verkündet er, wie an ein größeres Publikum gerichtet. »Bitte lesen Sie ihn. Unverzüglich.«

Als mir die Buchstaben endlich nicht mehr vor den Augen verschwimmen, teilen sie mir mit, daß ich eine unerwünschte Person bin. Arthur reicht mir einen von Hajs Parker-Füllern. Nach einigem Herumgestochere lande ich auf dem Papier und setze krakelig meine Unterschrift darunter. Hände werden nicht geschüttelt. Dafür sind – oder waren – wir zu britisch. Die beiden Knaben nehmen mich in die Mitte. Wir gehen in den Garten, und sie bringen mich zum Tor. Es ist ein drückend heißer Tag. Wer nicht in den Sommerferien ist, der hat Angst vor Bomben, weshalb die Straßen wie leergefegt sind. Ein dunkelgrüner Transporter ohne Beschriftung und ohne Fenster wartet vor dem Haus. Der gleiche Transporter, der vor der Pension der Hakims geparkt stand, vielleicht sogar derselbe. Vier Männer in Drillich-Overalls steigen aus und kommen auf uns zu. Ihr Anführer trägt eine Polizeimütze.

»Macht der Ärger?« fragt er.

»Der? Nicht mehr«, sagt ein blonder Knabe.

20

Ein Dolmetscher, Noah, der nichts zu dolmetschen hat, und sei er auch der beste seines Fachs, treibt ziellos dahin, ein Spielball der Wellen. Deshalb habe ich all dies aufgeschrieben, ohne noch recht zu wissen, für wen, aber jetzt weiß ich, daß es für dich war. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bevor du meine babylonische Keilschrift, wie Mr. Anderson sie immer nannte, zu entziffern bekommst, und bis dahin bin ich hoffentlich bei dir und kann dich dabei anleiten. Allzu schwierig dürfte es nicht werden, wenn du weiter so fleißig Swahili lernst.

Mein lieber Adoptivsohn, hüte dich im Leben vor Wörtern, die mit SONDER- anfangen. In Verbindung mit anderen Substantiven drückt es oft nichts Gutes aus. Eines Tages werde ich dir den Grafen von Monte Cristo vorlesen, ein Lieblingsbuch meiner verstorbenen Tante Imelda. Es handelt von dem berühmtesten Sondergefangenen aller Zeiten. Heutzutage gibt es in England ziemlich viele Monte Cristos, und ich bin einer von ihnen.

Ein Sondertransporter hat keine Fenster, aber dafür Sondervorrichtungen auf dem Fußboden, an denen man Sonderhäftlinge zu ihrer eigenen Sicherheit und Bequemlichkeit während der dreistündigen Fahrt festschnallen kann. Und damit sie nicht auf die Idee kommen, die öffentliche Ordnung mit Protestgeschrei zu stören, kommen sie ohne Aufpreis in den Genuß eines besonderen Lederknebels.

Sondergefangene haben Nummern statt Namen. Meine lautet Zwei Sechs.

Eine Sonderaufnahmeeinrichtung ist eine Ansammlung neu gestrichener Nissenhütten, die 1940 für unsere tapferen kanadischen Verbündeten gebaut wurden, umschlossen von so viel Stacheldraht, daß man die gesamte Nazi-Armee damit abwehren könnte, was die vielen Briten, für die der Zweite Weltkrieg noch immer andauert, völlig in Ordnung finden, die eingekerkerten Insassen von Camp Mary eher weniger.

Warum unser Lager nach der Muttergottes benannt ist, weiß offiziell keiner. Manche sagen, der erste kanadische Kommandant sei ein frommer Katholik gewesen. Mr. J. P. Warner, ehemals bei der Königlichen Militärpolizei und heute Sondervollzugsbeamter, erzählt eine andere Geschichte. Ihm zufolge handelte es sich bei Mary um eine Dame aus der nahegelegenen Stadt Hastings, die in den finstersten Zeiten des Krieges, als Großbritannien mit dem Rücken zur Wand stand, an einem einzigen Abend zwischen dem letzten Appell und dem Zapfenstreich einem gesamten Zug kanadischer Pioniere ihre Gunst erwies.

Meine ersten Begegnungen mit Mr. Warner ließen noch nicht ahnen, was für ein herzliches Verhältnis sich zwischen uns entwickeln sollte, doch von dem Tag an, da er sich überwand, an Maxies großzügiger Spende zu partizipieren, war das Eis gebrochen. Er habe nichts gegen Schwarze, beteuert er, schließlich habe sein Großvater in der Sudan Defence Force gedient und sein Vater während der Aufstände in Kenia bei unserer hervorragenden Militärpolizei.

Sonderhäftlinge genießen Sonderrechte:

– das Recht, das Gelände unserer Einrichtung nicht zu verlassen – das Recht, nicht mit den anderen Insassen den frühmorgendlichen Marsch in die Stadt anzutreten, Autofahrern an Ampeln keine nach nichts duftenden Rosen zu verkaufen und ihnen nicht im Austausch für ein paar Beleidigungen die Scheiben ihrer BMWs zu putzen – das Recht, zu jeder Zeit zu schweigen, Anrufe weder zu tätigen noch zu bekommen, keine Briefe zu verschicken und nur solche Sendungen zu empfangen, die zuvor von oben abgesegnet und mir als Geste guten Willens von Mr. J. P. Warner persönlich ausgehändigt worden sind, dessen Aufgabenlast, wie er mir versichert, enorm ist.

»Denken Sie nicht, daß ich Ihnen zuhöre, Zwei Sechs«, warnt er mich des öfteren und fuchtelt mir dabei mit dem Zeigefinger vor der Nase herum. »Sie sind bloß Luft, mehr nicht .« Dies, während er sich von meinem Rioja nachschenken läßt. »Kein Mensch aus Fleisch und Blut.« Trotzdem ist Mr. Warner ein kluger Zuhörer, der sich schon in allen Ozeanen des Lebens getummelt hat. Er hat in den abgelegensten Weltgegenden Militärgefängnisse geleitet und einmal auch – wegen eines Vergehens, über das er sich nicht näher ausläßt – den Strafvollzug am eigenen Leib kennengelernt. »Verschwörungen sind nicht das Problem, Zwei Sechs. Jeder konspiriert, keiner wird verknackt. Aber wenn’s ans Vertuschen geht, dann hilf uns Gott.«

Es hat schon etwas Tröstliches, nicht ganz allein dazustehen.

* * *

Es war wohl unvermeidlich, daß sich meine Inhaftierung im Camp Mary schlecht anließ. Im nachhinein sehe ich das ein. Wie hätte man mir, dem durch SONDER-Status Gebrandmarkten, denn auch einen begeisterten Empfang bereiten sollen? Dazu das PG, das hinter meinem Namen stand – das Kürzel für POTENTIELL GEWALTTÄTIG: nun, jeder bekommt das, was er verdient, wie ich schmerzhaft erfahren durfte, als ich mich aus dem Geist der Solidarität heraus einigen Somalis anschloß, die auf dem Dach der alten Pfarrei, jetzt Hauptgebäude von Camp Mary, einen Sitzstreik veranstalteten. Unsere Botschaft an die Welt war friedlich. Wir hatten Ehefrauen und buntgekleidete Sonntagsschulkinder dabei. Die Bettlaken, die wir ins Scheinwerferlicht hielten, waren mit versöhnlichen Worten bepinselt: Keine Rückführung in Folterländer, Mr. Blair! Wenn schon Folter, dann hier! In einem sehr wichtigen Punkt unterschied ich mich allerdings von meinen Mitdemonstranten: Während sie auf Knien um ein Bleiberecht bettelten, konnte es mir mit der Abschiebung gar nicht schnell genug gehen. Aber in der Haft ist Teamgeist alles, das mußte ich zu meinem Nachteil feststellen, als eine Abteilung namenloser Polizisten mit Motorradhelmen unsere Kundgebung mit Hilfe von Baseballschlägern auflöste.