Doch nichts im Leben, Noah, das nicht auch sein Gutes hätte, das gilt sogar für gebrochene Knochen. Während ich, an meine vier Bettpfosten gefesselt, auf der Krankenstation lag und mir dachte, daß es nicht mehr viel gab, wofür es sich zu leben lohnte, trat Mr. J. P. Warner ins Zimmer, in der Hand den ersten von fünfzehn Briefen, die mir deine geliebte Mutter Woche für Woche geschrieben hat. Als Bedingung dafür, daß sie sich widerstandslos abschieben ließ, hatte sie ihren Häschern mit der ihr eigenen Bravour meine Postadresse abgerungen. Für vieles von dem, was sie mir geschrieben hat, sind deine Augen und Ohren jetzt noch zu jung. Deine Mutter ist zwar eine keusche, aber auch eine leidenschaftliche Frau, die mit ihren Sehnsüchten nicht hinterm Berg hält. Aber wenn du einmal sehr alt bist und ebenso geliebt hast wie ich, setzt du dich vielleicht an einem kühlen Abend ans Feuer und liest, wie mich deine Mutter mit jeder Seite, die sie mir schrieb, zu Lach- und Freudentränen rührte, bis an Selbstmitleid oder Verzweiflung nicht mehr zu denken war.
Ihre Fortschritte entschädigen mich reichlich für meine erzwungene Untätigkeit. Sie ist nicht mehr bloß Diplomkrankenschwester, sie ist Oberschwester Hannah in einer nagelneuen Lehrstation im allerbesten Krankenhaus in Kampala! Und findet dabei trotzdem noch die Zeit, sich in einfachen operativen Eingriffen weiterzubilden! Um sich die Schürzenjäger vom Leib zu halten, hat sie sich, wie sie schreibt, auf Grace’ Rat hin einen unechten Ehering gekauft, bis ich ihr eines Tages einen echten schenken kann. Und als ein junger Praktikant sie im Operationssaal begrapschen wollte, hat sie ihn dermaßen heruntergeputzt, daß er sich drei Tage hintereinander bei ihr entschuldigt hat, nur um sie anschließend zu einem Ausflug in sein Wochenendhaus einzuladen, worauf es gleich die nächste Standpauke setzte.
Nur eines macht mir Sorgen: Denkt sie vielleicht, ich hätte ihr nicht verziehen, daß sie die Bänder fünf und sechs aus meiner Umhängetasche genommen und an Haj geschickt hat? Könnte ich doch nur sicher sein, daß sie weiß, daß es für mich nie etwas zu verzeihen gab! Denn wenn sie es nicht weiß, wird sie sich dann als braves Mädchen aus der Mission nicht lieber einen Mann suchen, der ihr nichts vorzuwerfen hat? Solches sind die Fragestellungen, die ein inhaftierter Liebender ausklügelt, um sich damit in endlosen Nachtstunden den Kopf zu zermartern.
Und einen Brief gab es, Noah, den ich aus moralischer Feigheit erst gar nicht öffnen wollte. Es war ein schwerer Umschlag, ölig braun, schwach liniert, ein sicheres Zeichen, daß sich hier die geheime britische Oberwelt zu Wort meldete. Aus Sicherheitsgründen trug er eine gewöhnliche Briefmarke statt des verräterischen Aufdrucks On Her Majesty’s Service. Mein Name, meine Nummer und die Adresse des Lagers, korrekt bis ins kleinste Detail, waren in einer Handschrift geschrieben, die mir genauso vertraut war wie meine eigene. Drei Tage lang stand der Umschlag auf der Fensterbank und starrte mich an. Schließlich aber,
gestärkt durch einen Abend mit J. P. Warner und einer Flasche Rioja, die er uns mit Maxies Blutgeld hatte zukommen lassen, griff ich zu einem der weichen Plastikmesser, die verhindern sollen, daß ich mir etwas antue, und schlitzte ihm damit die Kehle auf. Den Begleitbrief las ich zuerst. Schlichtes weißes A4-Papier, kein Wasserzeichen, Adresse London und das Datum.
Lieber Salvo,
offiziell kenne ich den Verfasser des beigefügten Schreibens nicht, und ich habe es auch nicht gelesen. Barney versichert mir, daß der Inhalt privater Natur und frei von Obszönitäten ist. Wie Sie wissen, widerstrebt es mir, die Privatsphäre anderer zu verletzen, soweit nicht das Wohl unserer Nation auf dem Spiel steht. Ich hoffe von Herzen, daß Sie eines Tages wohlwollender an unsere Zusammenarbeit zurückdenken können, gibt es doch nichts Wichtigeres, als daß der Mensch zu aller Zeit vor sich selbst geschützt werde.
In Verbundenheit,
R. (Bob) Anderson
Mein Blick glitt rasch weiter zu dem zweiten Umschlag, mit dem mir Mr. Andersons Begleitbrief hier den Mund wäßrig machte. Er war dick und an Monsieur l’interprète Brian Sinclair in seinem Postfach in Brixton adressiert. Der Absender, in Himmelblau auf die Rückseite geprägt, lautete Le Comptoir Joyeux de Bukavu: ein Wortspiel auf Hajs vollständigen Namen Honoré Amour-Joyeuse, wie ich mir unschwer zusammenreimte. Der Umschlag enthielt keinen durchgängigen Brief, sondern eine Sammlung flüchtiger Notizen, im Verlauf mehrerer Tage und Nächte aufs Papier geworfen. Als ich die Augen schloß und an den Blättern schnupperte, hätte ich schwören können, daß sie nach dem Parfüm einer Frau dufteten, und J. P. Warner war der gleichen Ansicht. Der Text war mit der Hand auf Französisch geschrieben, mit einer peniblen Akademikerschrift, die ihn auch in der größten Eile nicht im Stich ließ, genausowenig wie sein skatologischer Wortschatz.
Liebes Zebra,
die Aufnahmen waren nicht nötig. Ihr habt mich gelinkt, ich habe sie gelinkt.
Wer zum Geier ist Hannah?
Wieso müllt die Frau mich mit irgendwelchem Medizinerscheiß voll und sagt mir, ich soll meinen Arsch einem Urologen unter die Nase halten? Und wieso sagt sie mir, ich soll mich gegen meinen verehrten Vater Luc durchsetzen, und schickt mir Beweise, damit er mir glaubt?
Danke, aber es ging auch ohne Beweise. Sobald ich wieder zu Hause war, habe ich Luc klargemacht, daß er, wenn er nicht in Bälde tot und pleite sein will, als allererstes den Mwangaza absägen muß, zweitens den Mai Mai und den Banyamulenge Bescheid stoßen, daß sie sich zum Affen machen, drittens zum nächstbesten hohen Tier von der UNO laufen und eine Generalbeichte ablegen, und viertens einen längeren Urlaub in Alaska antreten.
Diese Hannah sagt, Sie stecken da in England ziemlich in der Scheiße, was mich, so wie ich Sie kenne, nicht groß überrascht. Sie betet, daß Sie es eines Tages in den Kongo schaffen. Wenn das klappt, wer weiß, dann würde ich vielleicht als der gute Erzgauner, der ich nun mal bin, einen Lehrstuhl an der Uni in Bukavu stiften, wo momentan noch die Kacke am Dampfen ist. Und es wäre mir scheißegal, ob Sie da Sprachen oder Saufen unterrichten.
Nur beeilen Sie sich, denn wenn Ihre Hannah nach Kivu zurückkommt, werden ihr die gesamten himmlischen Heerscharen nicht helfen können, ihre Tugend vor dem bösen Onkel Haj zu retten.
Hier in Bukavu ist alles wie gehabt. Neun Monate Regen im Jahr, und wenn die Abwasserkanäle verstopfen, wird der Unabhängigkeitsplatz zum Unabhängigkeitssee. Wir haben fast jede Woche Aufstände, Demos und Schießereien zu bieten, auch wenn das Timing zu wünschen übrig läßt. Vor ein paar Wochen hat unsere Fußballmannschaft ein wichtiges Heimspiel verloren, also haben die Zuschauer den Schiedsrichter gelyncht, worauf die Polizei die einzigen sechs Mann erschossen hat, die absolut gar nichts gemacht hatten. Aber von alledem lassen sich die weißen Wanderprediger aus den USA nicht schrecken, diese Halleluja-Billies mit den perfekten Frisuren, die uns sagen, daß wir George Bush lieben sollen und nicht mehr ficken dürfen, weil der liebe Gott das nicht gern sieht.