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Worauf sie mir ohne das geringste Zögern ihre Stammeszugehörigkeit nennt: »Ich bin aus der Gegend von Goma in Nord-Kivu, vom Stamm der Nande«, antwortet sie. »Und dieser arme Ruander ist der Feind meines Volkes.«

Und es ist die Wahrheit, die reine, ungeschminkte Wahrheit, daß ihr rasches Einatmen dabei, ihre sich ganz leicht weitenden Pupillen, dieser dringliche Appell an mein Verständnis, vor meinen Augen schlagartig die ganze Tragödie ihres geliebten Kongo erstehen läßt: die abgezehrten Leichname ihrer Angehörigen und Freunde, die unbestellten Felder und toten Herden und niedergebrannten Städte, die einmal ihr Heimatland waren, bis die Ruander über die Grenze einfielen, den Ostkongo zum blutigen Schlachtfeld ihres Bürgerkriegs machten und unsagbare Greuel über ein Land hereinbrechen ließen, das auch so schon vor die Hunde ging.

Erst wollten die Eindringlinge nur die génocidaires zur Strecke bringen, die binnen hundert Tagen von Hand eine Million ihrer Landsleute ermordet hatten. Aber aus einer hitzigen Verfolgungsjagd wurde schon bald eine fröhliche Balgerei um die Bodenschätze Kivus, worauf das Land, das zuvor schon auf der Kippe gestanden hatte, endgültig im Chaos versank – wie ich verzweifelt Penelope zu erklären versuchte, die es als gewissenhafte britische Mainstream-Journalistin lieber hat, nur das zu wissen, was alle anderen auch wissen. Liebling, sagte ich, hör zu, ich weiß, daß du viel um die Ohren hast. Ich weiß, daß deine Zeitung ihre Leser nicht verschrecken will. Aber ich bitte dich, ich flehe dich an, schreibt darüber, ausnahmsweise, damit die Welt erfährt, was sich im Ostkongo abspielt. Über vier Millionen Tote, beschwor ich sie. Allein in den letzten fünf Jahren. Die Menschen nennen es Afrikas Ersten Weltkrieg, und ihr nennt es gar nichts. Und denk nicht, es wäre ein ordinärer Piff-Paff-Krieg. Es sind nicht Kugeln und pangas und Handgranaten, die das Töten besorgen. Es sind Cholera, Malaria, Durchfall und der gute altmodische Hungertod, und die meisten Opfer sind unter fünf. Und sie sterben immer weiter, zu Tausenden, jeden Monat. Da muß doch eine Story drinsein. Ja, es war eine drin. Auf Seite 29, neben dem Kreuzworträtsel.

Wie war ich an meine unbehaglichen Erkenntnisse gekommen? Indem ich tiefnachts wach im Bett lag und darauf wartete, daß Penelope endlich heimkam. Indem ich den BBC-World-Service und obskure afrikanische Radiosender hörte, während sie nächtliche Abgabefristen einhielt. Indem ich allein in Internet-Cafés herumsaß, während sie ihre Informanten zum Essen ausführte. Aus heimlich gekauften afrikanischen Zeitschriften. Von Kundgebungen, bei denen ich in dickem Parka und Pudelmütze ganz hinten stand, während sie bei Wochenendseminaren auffrischen ließ, was immer gerade der Auffrischung bedurfte.

Aber die verstohlen gähnende Grace, rechtschaffen müde so kurz vor Schichtende, weiß all dies nicht, und wie sollte sie? Sie hat nicht das Kreuzworträtsel gemacht. Darum kann sie auch nicht wissen, daß Hannah und ich soeben an einem symbolischen Akt der Versöhnung teilhaben. Vor uns liegt ein sterbender Ruander, der sich Jean-Pierre nennt. An seinem Bett sitzt eine junge kongolesische Frau namens Hannah,

die dazu erzogen worden ist, in Menschen wie JeanPierre die alleinig Schuldigen am Elend in ihrer Heimat zu sehen. Aber kehrt sie ihm deshalb den Rücken? Ruft sie nach einer Kollegin oder überläßt sie ihn der gähnenden Grace? Sie tut nichts dergleichen. Sie nennt ihn diesen armen Ruander und hält seine Hand.

»Fragen Sie ihn bitte, wo er vorher gewohnt hat,  Salvo«, sagt sie förmlich in ihrem frankophonen Englisch.

Und wieder warten wir oder vielmehr, Hannah und ich blicken einander an, mit der benommenen, entkörperlichten Ungläubigkeit zweier Menschen, die einer himmlischen Vision teilhaftig werden, sie beide ganz allein, denn nur sie beide haben Augen zu sehen. Aber Grace ahnt etwas. Grace verfolgt den Fortgang unserer Beziehung jetzt mit nachsichtigem Interesse.

»Jean-Pierre, wo haben Sie gewohnt, bevor Sie unter Ihren Busch gezogen sind?« frage ich mit der gleichen bewußten Geschäftsmäßigkeit wie Hannah.

Gefängnis.

Und vor dem Gefängnis?

Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, ehe er mir eine Londoner Adresse und Telefonnummer nennt, aber er nennt sie, und ich übersetze sie für Hannah, und Hannah langt sich wie schon einmal hinters Ohr, bevor sie sie mit dem Filzstift in ihren Notizblock schreibt, das Blatt dann herausreißt und es an Grace weiterreicht, die sich zwischen den Betten des Saals hindurchschlängelt, um zu telefonieren – nur ungern, denn jetzt möchte sie nichts verpassen. Worauf unser Patient, hochfahrend wie aus einem bösen Traum, sich kerzengerade hinsetzt mit all seinen Schläuchen im Leib und mit der ganzen Grobheit und Drastik seines heimatlichen Kinyarwanda wissen will, was ihm verfickt noch mal fehlt und warum die Polizei ihn gegen seinen Willen hierherverfrachtet hat. Und an diesem Punkt bittet mich Hannah, auf Englisch und mit einer Stimme, die nun doch eine Spur brüchig klingt, ganz genau wiederzugeben, was sie gleich zu ihm sagen wird, wortwörtlich, ohne irgend etwas hinzuzufügen oder wegzulassen, auch wenn Sie es aus Rücksicht auf unseren Patienten gern täten, Salvo – unser Patient, diese Vorstellung beherrscht uns längst beide zur Gänze. Und mit nicht minder brüchiger Stimme versichere ich ihr, daß es mir nie einfallen würde, irgendeine Aussage von ihr zu beschönigen, so hart es mich auch ankommen mag.

»Wir haben nach dem Urkundsbeamten geschickt, und er kommt, so schnell er kann.« Hannah spricht sehr betont und läßt zwischendurch – mit deutlich mehr Verstand als das Gros meiner Klienten – Pausen, damit ich Zeit habe zum Übersetzen. »Ich muß Ihnen mitteilen, Jean-Pierre, daß bei Ihnen eine akute Entgleisung der Blutwerte vorliegt, die meiner Einschätzung nach zu weit fortgeschritten ist, als daß wir noch etwas tun könnten. Es tut mir sehr leid, aber das ist die Situation, und wir müssen sie akzeptieren.«

Und doch ist ihr Blick voll Hoffnung bei diesen Worten, voll klarem, freudigem Glauben an eine Erlösung. Wenn Hannah mit einer so schlimmen Nachricht fertig wird, sagt dieser Blick, dann kann auch JeanPierre damit fertig werden, und ich kann es erst recht. Und als ich ihre Botschaft annähernd wiedergegeben habe – wortwörtlich geht derlei nur in der Vorstellung der Laien, da kaum ein Ruander vom Bildungsstand dieses armen Mannes mit Begriffen wie »akute Entgleisung der Blutwerte« etwas anfangen kann –, läßt sie ihn durch mich wiederholen, was sie gerade gesagt hat, damit sie weiß, daß er es weiß, und er es auch weiß und ich weiß, daß sie beide es wissen, so daß keiner mogeln kann.

Und als Jean-Pierre ihre Botschaft mürrisch wiederholt hat und ich sie zurückübersetzt habe, fragt sie mich: Hat Jean-Pierre irgendwelche Wünsche, während er darauf wartet, daß seine Angehörigen kommen? Womit sie ihm, wie wir beide wissen, verdeckt zu verstehen gibt, daß er höchstwahrscheinlich sterben wird, ehe sie da sind. Was sie nicht fragt, und ich somit auch nicht, das ist, wieso er im Freien kampiert hat, statt heimzugehen zu Frau und Kindern. Aber solch persönliche Fragen verletzen ihrem – und auch meinem – Gefühl nach seine Intimsphäre. Denn warum sollte ein ruandischer Mann sich zum Sterben unter einen Busch in der Hampsteader Heide legen, wenn nicht, um für sich zu sein?

Dann plötzlich merke ich, daß sie nicht nur die Hand des Patienten hält, sondern meine gleich mit. Und Grace merkt es auch und ist beeindruckt, aber nicht auf voyeuristische Weise, denn Grace weiß genau wie ich, daß ihre Freundin Hannah keine Frau ist, die mit dem erstbesten Dolmetscher Händchen hält. Da liegen sie beide, meine rehbraune halbkongolesische Hand und Hannahs richtig schwarze mit der rosaweißen Handfläche, ineinander verschlungen auf dem Bett eines Ruanders und Feinds. Und das hat nichts mit Sex zu tun – wie sollte es, zwischen uns stirbt ein Mensch –, sondern mit Verbundenheit und gegenseitiger Tröstung, während wir uns um unseren gemeinsamen Patienten bemühen.