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Sie brauchen trotzdem einen Termin.

Mit den Flüchtlingen? fragt er.

Nein, zuerst mit dem Leiter des Hauses.

Immer wieder freut es ihn, zu erleben, wie eine Frage geboren wird. Das Auftreten der Flüchtlinge hier in der Vorstadt ist so ein Moment. Aus Angst kommt Ordnung, denkt er. Aus Verunsicherung und aus Vorsicht. In den anderthalb Stunden, die er bis zum Termin abwarten muss, geht er im Schlosspark spazieren, Blätter schwimmen im Teich, und zwischen den Blättern Schwäne und Enten.

Der Leiter des Hauses empfängt ihn in seinem Büro, er sagt:

Was genau wollen Sie von den Männern?

Ich arbeite an einem Forschungsprojekt.

Aha, sagt der Leiter und bedankt sich für die Visitenkarte, die der Emeritus über den Tisch reicht.

Der Leiter erwähnt nun Dublin II, er spricht von Rückführung, Abschiebehaft, Asylrechtsverordnung. Er fragt seinen Besucher, ob er denn wisse, was das Wort Aufenthaltstitel bedeutet.

Titel? Der Professor hat seinen eigenen Titel kaum je erwähnt, eigentlich nur, wenn es nötig zu sein schien, um einem Anliegen Nachdruck zu verleihen, wie vorhin bei der Rezeptionistin. Und Dublin? Einmal ist er mit seiner Frau da wandern gewesen. Vier, fünf Jahre, nachdem die Mauer gefallen war. Heidekraut, Schafe, viel Regen. Beim Frühstück in den kleinen Pensionen saßen mehrfach DDR-Bürger mit am Tisch, ebenso wie sie beide auf der Suche nach Abgeschiedenheit, nach dem Gewohnten, das es jetzt zu Haus nicht mehr gab, etwas wie dem Windschatten einer Mauer.

Dann sagt der Leiter noch mehrere Sätze, die ungefähr lauten:

Die Männer sind bei uns nur provisorisch untergebracht. Die Zimmer entsprechen nicht den Standards für eine längerfristige Lösung. Im Grunde genommen sollte das hier schon eine Baustelle sein. Es soll umgebaut werden. Es gibt zu wenig Küchen, zu wenig Waschräume für alle, und die Zimmerbelegung ist nicht ideal, mit all den Liegen.

Es geht mir nicht darum, sagt der Besucher.

Nur, dass Sie mich richtig verstehen. Wir sind, weil sonst niemand dazu bereit war, in die Bresche gesprungen.

Ich bin kein Journalist, sagt der Besucher.

Ja, sicher.

Beide schweigen einen Moment lang.

Wollten die Männer den Oranienplatz denn verlassen?

Das ist eine schwierige Frage.

Verstehe.

Nach einem weiteren kurzen Moment, in dem nichts gesagt wird, nickt der Leiter und sagt:

Dann wollen wir mal.

12

Das rote Ziegelgebäude, in dem die Flüchtlinge nun untergebracht sind, ist abgesperrt. Von innen. Ein blau Uniformierter schließt ihnen die Tür auf, ein zweiter Uniformierter sitzt im Vorraum hinter einem alten Bürotisch.

Der Sicherheitsdienst braucht jedesmal, wenn Sie das Gebäude betreten, Ihren Ausweis, sagt der Leiter.

In Ordnung.

Es geht um Brandschutz: Wir müssen zu jedem Zeitpunkt wissen, wie viele Menschen im Haus sind.

Wsjo w porjadkje, heißt in Ordnung auf Russisch, denkt Richard, nickt aber nur und schiebt seinen Ausweis über den Tisch. Das Material, aus dem das unechte Holzfurnier ist, hieß früher Sprelacart, wahrscheinlich ist der Tisch noch aus dem Büro der Volkssolidarität oder der Kreisleitung der Partei.

Nun also dürfen sie an dem Uniformierten vorbei, rechts in den Gang, der zum Treppenhaus führt, sie gehen an einem Zimmer vorüber, dessen Tür ausgehängt ist, in dem Zimmer stehen ein Billardtisch und ein paar Sessel, drei junge, schwarzhäutige Männer sitzen in diesen Sesseln, jeder mit einem Queue in der Hand, aber sie spielen nicht und sagen kein Wort, und Richard sieht auf dem Tisch auch keine Kugeln.

Neonlicht, Milchglasscheiben, die Treppen aufwärts ein lindgrünes Geländer, handgeschmiedete Ranken, die Farbe blättert an einigen Stellen schon ab.

Der erste Stock steht leer, da gibt es kein Wasser, erklärt ihm der Leiter.

Im zweiten Stock biegen sie in einen Gang ein. Rechts und links Türen. Auf der Höhe, auf der die Griffe von Rollstühlen an die Wand anstoßen würden, ist zwischen den Türen eine breite Holzleiste befestigt.

Sind die Männer denn um diese Zeit überhaupt da?

Irgendwer immer.

An den Türen stehen noch die Namen der Alten, die zuletzt hier untergebracht waren. Ob die schon tot sind inzwischen? Oder anderswohin verlegt?

Und noch eins: Die Männer dürfen das Haus auch verlassen, sagt der Leiter, dennoch ist es womöglich besser, hier mit ihnen zu sprechen.

Das soll mir recht sein.

Ich sag’s nur. Welche Sprachen können Sie sprechen?

Englisch, Russisch, aber das ist hier wohl nicht so — der Leiter schüttelt den Kopf — und auch Italienisch.

Gut, dann fangen wir hier an.

Der Leiter klopft und öffnet eine der Türen, ohne auf Antwort zu warten, so wie ein Arzt oder Pfleger auf einer Krankenstation. Und wie auf einer Krankenstation sieht der Besucher nun etliche Liegen mit Bettzeug. Auf manchen liegen Männer und schlafen, andre Betten sind leer, hinten hat sich einer an die Wand angelehnt und hört mit Ohrstöpseln Musik. Auf der Liege ganz vorn, die quer vor einen Fernseher gerückt ist, sitzt eine massige Gestalt, daneben drei andre. Eigentlich möchte Richard gleich wieder hinausgehen. Aber der Leiter stellt ihn schon vor: Ein Professor, Interviews für ein Projekt, ein paar Fragen. Im Fernseher läuft eine Sendung über Fischfang. Man sieht Fische in Netzen, Männer in orangefarbener, wetterfester Kleidung, man sieht Boote im Sturm und viel Wasser. Wissen die Männer hier überhaupt, was das ist: ein Professor? Reisetaschen sieht Richard unter den Liegen, Schuhe sind paarweise unter dem Fensterbrett aufgereiht. Manche von den Schlafenden sind so in ihre Decken gewickelt, so reglos und still, dass sie wie Mumien aussehen. Der massige Mann, der auf der Liege vor dem Fernseher sitzt, nickt ihm zu und sagt: No problem.

Dann lass ich Sie jetzt allein, sagt der Leiter und verabschiedet sich.

Der Mann trägt ein rotes T-Shirt mit einem unlesbaren Schriftzug quer über den Leib. Dann geht es also doch nicht allen Flüchtlingen schlecht, denkt Richard, wenn der Kerl so massiv ist. Der Mann nickt ihm zu, zieht das Laken auf der ihm zunächst stehenden Liege zurecht und bietet ihm einen Platz an. Nicht in der Straßenhose auf ein bezogenes Bett. Aber es gibt hier keinen Stuhl. Ob es das Wort Straßenhose in Grimms Wörterbuch gibt? Der Fischfang ist ein hartes Geschäft, besonders im Winter. Der mächtige Mann, der hier offenbar derjenige ist, der Entscheidungen trifft, stellt sich vor: Er heiße Raschid. Und der hier sei Zair, der sei Abdusalam, und der Lange heiße Ithemba. Und er? Richard heißt er, und bedankt sich für die Bereitschaft der Männer, mit ihm zu sprechen. Dann zieht er seinen Fragenzettel hervor.

Etwas später steht in seinem Notizbuch: Der Norden Nigerias muslimisch, der Süden christlich. Die Christen flohen aus Kaduna, als die Scharia eingeführt wurde. Kaduna? Sprachen sind unter anderem: Yoruba und Hausa. Yoruba? Hausa? Die dem Yoruba-Volk angehörenden Leute sind meistens Christen. Raschid ist Yoruba, allerdings Moslem. Hausa-Leute dagegen meist Moslems. Aber natürlich nicht alle, die Hausa als Sprache beherrschen. Die Sprache Hausa wird auch in Ghana, im Sudan, in Niger und Mali gesprochen und verstanden. Auch Arabisch verstehen die meisten. Die Männer in diesem Zimmer sind alle aus Nigeria, aber aus verschiedenen Gegenden. Raschid kommt aus dem Norden, nicht von der Küste, wie zum Beispiel Abdusalam. Nigeria hat eine Küste? Zair ist bei Abuja geboren. Abuja? Die Hauptstadt. Es gibt auch ein Ghana-Zimmer, ein Niger-Zimmer und so weiter. So haben wir es auch auf dem Oranienplatz mit den Zelten gemacht, dann kennt man sich besser aus, sagt Raschid. Also hier, in Zimmer 2017, sind wir sozusagen in Nigeria. Ja, sozusagen. Einer der Schlafenden schnarcht jetzt sehr laut, aber keiner von den anderen lacht darüber oder scheint das überhaupt zu bemerken. Der mächtige Kerl, Raschid, und Zair, der neben ihm sitzt, waren auf demselben Boot. Welche Vegetation gibt es in Ihrem Land? Gab es Haustiere? Haben Sie einen Beruf gelernt? Als die italienische Küstenwache die Flüchtlinge aufnehmen wollte, sind alle auf die eine Seite des Boots gelaufen, um gerettet zu werden, darum ist das Boot dann gekentert. Die Tür geht auf, ein schwarzer Mann schaut herein, sagt etwas in einer dem Besucher unverständlichen Sprache, Hausa vielleicht, bekommt eine Antwort — und ist schon wieder fort. Haben Sie eine Schule besucht? Raschid kann nicht schwimmen. Er hält sich an einem Kabel fest und bleibt so über Wasser, auch Zair kann nicht schwimmen, er klettert, während das Boot kippt, über den in die Luft ragenden Rand auf die Unterseite des Bootes und wird von dort gerettet. Was war in Ihrer Kindheit Ihr Lieblingsversteck? Aber 550 von 800 sind ertrunken. Auf dem Fernseher sind nun viele Fische auf einem Fließband zu sehen, Frauenhände in Gummihandschuhen greifen nach ihnen und machen mit großen Messern innerhalb von Sekunden aus den Fischen Filet. In Hamburg haben sie sich wiedergetroffen, Raschid und Zair. Und sich sofort erkannt. Der Schlafende schnarcht noch immer. Auf demselben Boot waren sie. 550 von 800 sind ertrunken. Richard will nicht mehr wissen, wie es um die Fischproduktion bestellt ist. Deswegen sagt er: Erinnert sich einer von Euch vielleicht an ein Lied? Ein Lied? Nein. Der nicht und der nicht und der nicht. Aber Abdusalam. Zum ersten Mal hebt der kurz den Kopf, er hat bisher noch kein Wort gesagt, vielleicht schämt er sich, weil er einen Silberblick hat. Der Fernseher wird, wie Richard es gehofft hat, nun leise gestellt, und Abdusalam schaut wieder nach unten, auf seine Hände, und beginnt zu singen.