Выбрать главу

Jeder in Nigeria kennt dieses Lied. Das Eyo-Festival auf der Insel von Lagos. Lagos? Ithemba, der Lange, hält Richard das zerbrochene Display seines Telefons mit einem Foto hin: Weiße Hüte, weiße Kleider bis zum Boden und weiße Bärte und Netze vor den Gesichtern, so geben die Geister ihrem verstorbenen König das letzte Geleit. Manche von ihnen vollführen Sprünge, auf dem Foto krümmen sie sich einen halben Meter über der Erde, es sieht so aus, als kämen sie gerade aus der Luft und wollten nun landen. Am Sonntag verkündigen die Geister mit den schwarzen Hüten die Prozession für den drauffolgenden Sonntag, am Montag die mit den roten, am Dienstag die mit den gelben, am Mittwoch die mit den grünen, am Donnerstag die mit den purpurfarbenen Hüten.

Was macht ihr eigentlich hier so den ganzen Tag, fragt Richard mitten hinein in sein eigenes Nicken über dem zerbrochenen Display, und ist froh darüber, dass sich im Englischen die Frage, ob Sie oder ob Du, nicht stellt. Es könnte sein, dass er in Wahrheit die Männer duzt — sie hinter der Fassade des indifferenten englischen You deutsch denkend duzt. Aber warum eigentlich? Nicht einmal seine Studenten hat er jemals geduzt. Wir wollen arbeiten, sagt jetzt der große Raschid, aber wir bekommen keine Arbeitserlaubnis. Es ist schwer, sagt Zair, sehr schwer. Ein Tag ist genauso wie der andre, sagt der lange Ithemba. Wir denken und denken, weil wir nicht wissen, was wird, sagt Abdusalam und schaut nach unten. Richard würde gern etwas antworten, aber ihm fällt keine Antwort ein. Nach nicht einmal einer Stunde des Zuhörens ist er erschöpfter als nach einer seiner Vorlesungen an der Uni. Wenn eine ganze Welt, die man nicht kennt, auf einen einstürzt, wo fängt man dann an mit dem Sortieren? Er sagt, er müsse jetzt gehen, aber er komme wieder. Er habe Zeit, um alles in Ruhe zu hören. Zeit.

Nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hat, dreht er sich noch einmal um, um sich die Zimmernummer zu merken. 2017 steht an der lindgrünen Tür, es ist die dritte von links. Und danach kommen noch sechs oder sieben weitere lindgrüne Türen. Auf der rechten Seite genauso. Am Ende, dort wo der Gang nach rechts abbiegt, ist ein Fenster mit Aussicht auf eine braun verputzte Wand, auf dem Fensterbrett stehen ordentlich aufgestellt drei Paar Schuhe. Erst jetzt fällt ihm auf, dass das Neonlicht, das den Gang erhellt, von Zeit zu Zeit flackert.

13

Als Richard am nächsten Tag wieder da ist, erklärt ihm der Sicherheitsdienst, ein Betreuer würde gleich kommen und ihn hinaufbegleiten, allein dürfe er nicht ins Gebäude. Wsjo w porjadkje. Anderthalb Jahre lang waren die Flüchtlinge mitten in der Stadt, jeder hätte mit ihnen sprechen können, auch er, vor ein paar Wochen noch, auf der Parkbank. Aber von dem Moment an, in dem sie eine Vereinbarung unterzeichnen, muss man sie auch verwalten. Bürokratische Geometrie, diesen Begriff hat er vor einigen Tagen in dem Buch eines Historikers über die Auswirkungen des Kolonialismus gelesen. Die Kolonisierten wurden durch Bürokratie erstickt. Gar nicht der ungeschickteste Weg, sie am politischen Handeln zu hindern. Oder wurden hier nur die guten Deutschen vor den bösen Deutschen beschützt? Das Volk der Dichter beschützt vor der Gefahr, noch einmal das Volk der Mörder zu heißen? Ein Propangaskocher in so einem Zelt auf dem Oranienplatz könne leicht einmal ins Kippen geraten, hatte in einem der anonymen Internet-Kommentare zu einem Zeitungsartikel gestanden, als der Platz noch von den Afrikanern besetzt war. Hatte der Senat also die Afrikaner in Sicherheit gebracht oder vielmehr sich selbst? Im letzteren Fall wäre das, was getan wurde — die wirkliche Unterbringung der Flüchtlinge in einem besseren Quartier — also nur eine Maske. Und was dann dahinter? Welches eigentliche Handeln hinter dem, was man sah? Wer spielte hier wem etwas vor? Richard, wie jeder, könnte natürlich der Mann mit dem Propangaskocher sein. Die Afrikaner wussten bestimmt überhaupt nicht, wer Hitler war, aber dennoch: Nur wenn sie Deutschland jetzt überlebten, hatte Hitler den Krieg wirklich verloren.

Die Betreuerin, die ihn abholt und hinaufbringt, ist eine feine, ältere Dame. Am Billardzimmer vorüber, das diesmal leer ist, die Treppe, die rankenförmigen Gitter, das milchfarbene Licht, das flackernde Licht im Gang, die lindgrünen Türen. Die Betreuerin klopft und öffnet die Tür zu 2017, genauso, ohne auf Antwort zu warten, wie es bei seinem ersten Besuch der Leiter des Heims getan hat. In 2017 liegen wieder ein paar Gestalten in ihren Betten und schlafen, unter ihnen vielleicht Raschid, Zair, Ithemba, Abdusalam, das kann Richard von hier aus nicht erkennen, jedenfalls läuft der Fernseher nicht, und niemand reagiert auf die geöffnete Tür.

Die Dame macht die Tür wieder zu und geht weiter, zu 2018, klopft, drückt die Klinke herunter, aber die Tür ist verschlossen.

In 2019 klopft sie und öffnet, links an der Wand steht ein Bett, auf dem sitzt einer und schreibt. Ist das nicht der, den Richard auf dem Oranienplatz mit dem Fahrrad gesehen hat? Ein ganz Junger ist das, mit wilden Locken, als die Betreuerin fragt, ob er Lust habe, mit dem Professor zu sprechen, wirft er zum Zeichen der Einwilligung den Kopf kurz nach hinten, wie ein bockiges Pferd. Er legt die Seite, die mit deutschen Vokabeln schon ganz vollgeschrieben ist, neben sich auf das Bett, über seinem Kopf hängt an der Wand eine Liste der unregelmäßigen Verben: gehen, ging, gegangen. Erst jetzt, als Richard den einzigen Stuhl im Raum zu sich zieht, um sich zu setzen, sieht er, dass auch auf den anderen beiden Betten Menschen unter den Decken liegen und schlafen. Das macht nichts, sagt die Betreuerin, als sie sieht, dass er zögert, sie nickt ihm zu und geht wieder hinaus. Das macht also nichts. Einen Moment lang ist er davon erschreckt, dass diese jungen Männer hier plötzlich so alt sein müssen. Warten und Schlafen. Mahlzeiten, solange das Geld dazu reicht, und ansonsten Warten und Schlafen.