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Awad sei sein Name, er habe gehört, dass da jemand sei, der seine Geschichte hören wolle. Er wohne in Zimmer 2020, gleich nebenan. Gibt Richard die Hand, nickt und ist schon wieder hinaus.

Und jetzt? fragt Richard den Jungen.

Nichts, sagt der.

Bekommt ihr eigentlich Geld hier? fragt er.

Ja, seit zwei Wochen, sagt der Junge, aber das ist nicht gut, ich will lieber Arbeit.

Arbeit.

Arbeit.

Er muss jetzt gehen, diese Gespräche strengen ihn mehr an, als er gedacht hätte.

Ich komme wieder, sagt Richard, so wie man es zu einem Kranken sagen würde, von dem man nicht weiß, ob er die Nacht übersteht. Oder ist er selbst vielleicht der Kranke? Verderben, verdarb, verdorben. Die beiden anderen Männer auf ihren Liegen schlafen noch immer. Er verabschiedet sich von diesem Jungen, der so aussieht, wie er sich Apoll immer vorgestellt hat.

Im Supermarkt, der früher Kaufhalle hieß, stehen beim Eingang die Flaschen mit Wasser, Limonade und Bier. Dann kommt das Brot, dann das Obst, das Gemüse. Gurken, Eisbergsalat. Im Kühlfach Würstchen und Käse. Meerrettich noch, Zahnpasta, Küchenrolle und Socken, Feueranzünder im Regal kurz vor der Kasse, und Batterien für sein Radio im Bad, alles zusammen macht 32,90 Euro, warten Sie, ich hab Kleingeld, oder soll ich mit der Karte, nein, müssen Sie nicht, geht schon, ist schon in Ordnung. Das ist seine Welt, ist inzwischen die Welt, in der er sich auskennt. Lebensmittel für zwei oder drei Monate auf einmal hat er noch nie eingekauft, nicht einmal während des Vogelgrippealarms. Seine Einkaufszettel schreibt er zu Hause immer schon in der Reihenfolge der Regale im Supermarkt, so wie er jetzt durch die Halle geht. Auf dem Totenbett noch wird er wissen, auf welcher Palette das Bier steht.

14

Am Donnerstag sucht Richard die Papiere für seine Steuer zusammen, telefoniert mit der Krankenversicherung, und lässt in der Autowerkstatt die Winterreifen montieren. Erst am Freitag geht er wieder zu dem Ziegelgebäude, der Ausweis, wsjo w porjadkje, der grüne Billardtisch ohne Kugeln, und daneben wie neulich die schwarzen Männer, Schwarz-Grün, die Farben des Fußballvereins von Hannover, der missverständlich die Roten genannt wird, als gäbe es in der Bundesliga eine Kommunistenfraktion. Die ältere Dame begleitet ihn stumm hinauf und verlässt ihn auf seinen Wunsch schon vor der Tür des Zimmers 2020.

Eine lindgrüne Tür, so wie die andern.

Er klopft und wartet, Awad macht ihm auf.

How are you?

Wahrscheinlich gut, was soll er sagen.

How are you?

Auch Awad geht es gut.

Höflichkeitsfloskeln in einer Sprache, in der weder der eine zu Hause ist noch der andre.

Awad macht die Tür weiter auf, um ihn hereinzubitten. Er würde ihm gern von sich erzählen, sagt er, nachdem er die Tür hinter seinem Besucher wieder zugemacht hat. Denn wenn jemand irgendwo ankommen wolle, dürfe er nichts verbergen.

Ist das wirklich so? fragt Richard.

Und Awad sagt: Aber ja! und bietet ihm einen Stuhl an.

Richard dankt, setzt sich und denkt an den Niemand Odysseus und an die schweigenden Männer vor dem Roten Rathaus im Sommer. Er denkt auch daran, wie er seine Geliebte vor seiner Frau verborgen hat, und den Alltag, den er mit seiner Frau hatte, gleichzeitig vor seiner Geliebten. Ist er denn niemals in seinem Leben angekommen?

Dabei bezieht sich das Ja von Awad wohl nur darauf, dass sein Angebot ehrlich gemeint war, denn er sagt jetzt, der Psychologin habe er auch schon alles von sich erzählt.

Der Psychologin?

Wenn ihm, dem Besucher, das lieber sei, könne er auch die Psychologin anrufen, einen Moment nur, er habe ihre Karte mit der Telefonnummer, aber das sei gar nicht, sagt Richard, nein, wirklich gern, kein Problem, einen Moment nur, die Karte müsse hier irgendwo sein. Awad sucht die Visitenkarte der Psychologin, der er alles von sich erzählt hat, erst auf dem Tisch, dann auf dem Fensterbrett, dann im Regal, dann im Schrank, und schließlich in seiner Tasche, die unter dem Bett steht. Das müsse wirklich nicht sein, sagt Richard, es mache überhaupt nichts, sagt er, während er sich, je nachdem, wo Awad gerade zugange ist, nach ihm umdreht, wenn Awad die Visitenkarte nicht finde, dann später vielleicht, das reiche ihm völlig, aber Awad hört nicht auf, nach der Karte zu suchen: Sie muss hier irgendwo sein, eben hatte ich sie noch, wo kann sie nur liegen?

Richard sieht, dass ein blaukarierter Vorhang halb vor das Fenster gezogen ist. Ob der noch von den pflegebedürftigen Vorgängern herrührt?

Gleich, gleich, sagt Awad, die Psychologin weiß alles von mir. Und dabei wird er, Richard, niemals bei der Psychologin anrufen, aber das kann er dem Mann nicht sagen, der immer mehr außer sich gerät, während er in die Regalfächer und in seine Reisetasche wieder und wieder hineingreift, während er die Papiere, die auf dem Fensterbrett liegen, zum vierten Mal anhebt und sogar unter die Bettdecken schaut, während er den Schrank nach jeder Runde, die er mit suchendem Blick durch das Zimmer macht, noch einmal öffnet und noch einmal schließt.

An der Wand hängt eine Gebrauchsanleitung für den Geschirrspüler in der Gemeinschaftsküche des Hauses. Die drei anderen Betten im Raum sind leer, ordentlich zugedeckt.

Wo sind denn die andern? fragt Richard.

Beim Billard, sagt Awad, und lässt nun endlich ab von seiner Suche, müde sieht er aus, als er sich zu seinem Besucher umdreht, Entschuldigung, sagt er, ich kann die Karte leider nicht finden.

Ich heiße Richard, sagt Richard.

Awad wurde in Ghana geboren. Seine Mutter starb bei der Geburt. So wie Blanscheflur, denkt Richard, so wie die Mutter von Tristan. Der erste Tag meines Lebens, sagt Awad, war zugleich der Tag, an dem ich meine Mutter verlor. Und der Vater? Awad antwortet nicht. Bis zu seinem siebenten Jahr sei er bei der Nana, der Großmutter, gewesen, in Ghana. Lebt die Großmutter noch? Hat er sie später einmal wiedergesehen? Weiß er noch, wie sie aussah? Nein, Awad erinnert sich nicht. Als er sieben Jahre alt war, holte der Vater ihn zu sich nach Libyen. Diese Großmutter, deren Tochter bei der Geburt des ersten Kindes starb, deren Enkel von ihr das Sprechen lernte und von ihr jeden Abend vor dem Zubettgehen gewaschen wurde, auf einem Brett stehend, damit die heiße Erde ihm nicht die Füße verbrannte, diese inzwischen sehr alte und womöglich schon gestorbene Frau versucht, aus dem erinnerungslosen Raum ihres Enkels in die Welt des Erzählbaren vorzustoßen, aber es gelingt ihr nicht, sie wird von ihrem Enkel Nana genannt, so wie alle ghanaischen Großmütter genannt werden, und bekommt sonst keinen Namen, bleibt unter der trennenden Schicht und sinkt still wieder ab. Wie wird es dem Mann im See gehen, wenn der See nun bald gefriert?

Ist er noch einmal zurück nach Ghana gekommen?

Nein, niemals.

Der Vater arbeitet in Tripoli als Fahrer für eine Ölcompany. Awad wird eingeschult. Zu zweit wohnen sie in einem Haus mit acht Zimmern. Oft haben sie Gäste. Wenn der Vater von der Arbeit nach Haus kommt, kocht er für alle. Der Vater spielt Fußball mit ihm. Der Vater kauft für ihn Spielzeug. Gibt ihm Taschengeld, gar nicht so wenig. Fliegt in den Ferien mit ihm nach Ägypten, nur dreißig Minuten dauert der Flug hinüber nach Kairo. In Kairo kenne ich mich wirklich gut aus, sagt Awad, wir waren oft drüben. Drüben hieß zu DDR-Zeiten der Westen von Deutschland, vom Osten aus gesehen. Der Vater zieht die Jalousien auf der Südseite des Hauses, auf die tagsüber die Sonne scheint, erst abends nach oben. Der Vater bringt seinem Sohn bei, wie man sich nach dem Duschen den Rücken abtrocknet, mit einem schräg über den Rücken gespannten Handtuch. Sein Vater bringt ihm bei, wie man kocht. Sein Vater schenkt ihm den ersten Rasierapparat.

Mein Vater sagte mir, wer ich bin, sagt Awad.

Und dann sitzt Awad einen Moment lang einfach nur da, ohne etwas zu sagen, und blickt auf das unechte Holzfurnier auf der Tischplatte. Auch dieser Tisch stand vielleicht 25 Jahre zuvor in einem Büro der Volkssolidarität oder im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, aber das kann Awad nicht wissen, und kann schon gar nicht wissen, was die Volkssolidarität oder die Deutsch-Sowjetische Freundschaft war.