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Und dann?

Ich habe begonnen, als Automechaniker zu arbeiten. Hatte Freunde. Es war ein gutes Leben.

Und dann?

Draußen auf der Straße fährt jetzt ein LKW rückwärts, man hört das Warnsignal, einen hohen Piepton, wieder und wieder. Im Morsealphabet wäre das eine Null. In jeder ungeraden Kalenderwoche wird der Plastikmüll abgeholt. Oder es ist ein Möbeltransport, der in der Einfahrt zu wenden versucht.

Dann wurde mein Vater erschossen.

Richard würde jetzt gern etwas sagen, aber es fällt ihm nichts ein.

Am Tischbein klebt ein kleines gelbes Schild mit der Inventarnummer 360/87.

Richard hatte seinen Vater, als der gestorben war, noch einmal im Krankenhaus gesehen, der Kiefer des Toten war von den Schwestern mit einer Binde am Schädel festgebunden worden, damit der Mund nicht für den Rest der Ewigkeit offenblieb. Mit dieser Binde hatte sein Vater ausgesehen wie eine Nonne, Richard hatte ihn kaum wiedererkannt.

Awad sitzt vornübergebeugt, er stützt sich mit den Armen auf und schaut immer tiefer in den Tisch hinein, während er weiterspricht.

Ein Freund meines Vaters hat mich angerufen. Sie waren bei uns in der Firma! hat er geschrien. Und: Dein Vater! Mehr nicht. Ich habe gesagt, ich verstehe nicht, was er meint. Da hat er wieder geschrien. Er, der sonst nie geschrien hat, sonst immer freundlich zu mir war. Hat mich angeschrien und gesagt, ich solle so schnell wie möglich nach Haus laufen und die Tür gut versperren. Dann war die Verbindung plötzlich weg. Ich rannte los. Aber als ich zu Hause ankam, war die Eingangstür schon aus den Angeln gerissen, die Fenster waren zersplittert. Drinnen war alles verwüstet, der Flur, die Zimmer, die Küche. Überall lagen Scherben herum, Möbel waren umgekippt, der Fernseher war zerschlagen, alles. Ich kletterte hinten bei einem der Fenster hinaus und versuchte, den Freund meines Vaters noch einmal zu erreichen. Versuchte es wieder und wieder. Aber ich kam nicht mehr durch. Einmal noch habe ich auch die Nummer meines Vaters gewählt.

Nichts.

So war das Ende.

Bis die Nacht kam, wartete ich auf der Straße. Wo sollte ich hingehen? Es war dieselbe Straße, die ich zur Schule gegangen bin, und später zur Arbeit. Dann ist eine Militärstreife gekommen. Sie haben mich gezwungen, auf die Ladefläche des LKWs zu steigen, und mich in ein Barackenlager gebracht. Ich habe die Toten auf den Straßen liegen sehen. Manche erschossen, manche erstochen. An diesem Tag habe ich den Krieg gesehen. An diesem Tag habe ich den Krieg gesehen.

In den Baracken waren schon Hunderte Menschen. Die meisten von ihnen Schwarzafrikaner, aber auch ein paar Araber, aus Tunesien, Marokko, Ägypten. Nicht nur Männer, auch Frauen, Kinder, Säuglinge, alte Menschen. Alles wurde uns abgenommen: Geld, Uhren, Telefone, sogar die Socken, sagt er und lacht. Lacht und lacht. It’s not easy, sagt er und hört wieder auf zu lachen. It’s not easy, sagt er noch einmal, und schüttelt den Kopf, it’s not easy, als sei er mit seiner Geschichte am Ende.

Und dann?

Als ich mich beschweren wollte, sagt er, haben sie mir mit einem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen. Hier kannst du noch immer die Narbe sehen: Awad teilt seine Haare auseinander und zeigt dem emeritierten Professor, mit dem er heute zum ersten Mal in seinem Leben spricht, seine Narbe. Wenn du irgendwo ankommen willst, darfst du nichts verbergen, hat er am Anfang des Gesprächs zu Richard gesagt.

Wenn du Glück hast, wirst du geschlagen, wenn du Pech hast, erschossen, hat mir jemand zum Trost gesagt. Dann haben sie aus den Telefonen die SIM-Karten herausgenommen und vor unseren Augen zerbrochen, dann die Speicherkarten herausgenommen, zerbrochen. Broke the memory, sagt Awad. Das Gedächtnis zerbrochen. Keinem von uns haben sie irgendetwas gelassen außer T-Shirt und Hose oder Rock. Zwei Tage saßen wir da in den Baracken, während die europäischen Bomben auf Tripoli fielen. Wir hatten Angst, dass eine davon uns trifft, es war ja ein Militärlager. Am dritten Tag brachten sie uns zum Hafen, trieben uns auf ein Boot. Wer von euch kann so ein Boot lenken? Zwei, drei Araber meldeten sich. Eine Gaddafi-Flagge wurde auf unserem Boot gehisst, sagt Awad und lacht, eine Gaddafi-Flagge!

Also waren das Gaddafi-Leute? Oder Rebellen?

Das wussten wir nicht. Alle hatten die gleichen Uniformen. Wie sollte man sie voneinander unterscheiden?

Dass von der Regierung abgefallene Militärs noch immer die Uniform ihres Staates tragen, hatte Richard sich bis zu diesem Augenblick niemals klargemacht.

Es gab jedenfalls niemanden, der auf unserer Seite stand. Dabei bin ich in Libyen aufgewachsen. Libyen war mein Heimatland.

Awad nickt vor sich hin und sagt eine Weile nichts mehr.

Und dann?

Dann schossen sie eine Salve in die Luft und sagten zu uns: Wer zurückzuschwimmen versucht, wird erschossen. Wir wussten nicht, wohin das Boot fährt. Vielleicht nach Malta? Nach Tunesien? Erst später wurde uns klar: nach Italien. Wir saßen dicht an dicht, du konntest nur für ein paar Minuten aufstehen, dort wo dein Platz war, dann hast du dich wieder an dieselbe Stelle gesetzt. Die Frau hinter mir hat einfach da, wo sie saß, im Sitzen, gepinkelt. Alles war nass, als ich mich aufstützen wollte. Vier Tage waren wir unterwegs. Nur wenige Flaschen mit Wasser gab es, die haben wir den Kindern gegeben. Wir Erwachsenen haben, als es zu schlimm wurde, Salzwasser getrunken. It’s not easy, Richard, it’s not easy. Wir haben in eine leere Plastikflasche mit den Zähnen eine größere Öffnung hineingebissen, dann ein paar Schnürsenkel aus unseren Schuhen zusammengebunden, die Flasche angehängt, runtergelassen, und das Meerwasser geschöpft. Man muss ja trinken. Einige sind gestorben. Haben mitten unter uns gesessen, dann nur ganz leise gesagt: mein Kopf, mein Kopf, dann so den Kopf geneigt, und waren im nächsten Moment tot. Die Toten wurden ins Wasser geworfen.

Richard denkt daran, wie er auf vielen Flügen aus dem ovalen Fenster hinunter auf irgendein Meer geblickt hat. Wie die Wellen sich, von oben gesehen, überhaupt nicht bewegten und der weiße Schaum aussah wie Stein. Mitte des letzten Jahrhunderts hat die Küste von Libyen kurze Zeit einmal zu Italien gehört. Jetzt ist Libyen ein anderes Land, und Italien erscheint Flüchtlingen, die Libyen in einem Boot verlassen, zuerst in Form einer felsigen kleinen Erhebung, umgeben von sehr viel Wasser. Wenn überhaupt.

Der Krieg zerstört alles, sagt Awad: die Familie, die Freunde, den Ort, an dem man gelebt hat, die Arbeit, den Alltag. Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr. Man weiß nicht, wohin. Man weiß nichts mehr. Ich kann mich selbst nicht mehr sehen, das Kind, das ich war. Ich habe kein Bild mehr von mir.

Mein Vater ist tot, sagt er.

Und ich — ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

Ein Fremder werden. Sich selbst und den andern. So also sah ein Übergang aus.

Was ist der Sinn von dem allen? fragt er und schaut Richard jetzt zum ersten Mal wieder an.

Richard ist nun der, der antworten soll, aber er weiß keine Antwort.

Ist es nicht so, sagt Awad, dass jeder erwachsene Mensch — ob Mann, ob Frau, ob reich oder arm, ob er Arbeit hat oder nicht, ob er in einem Haus wohnt oder obdachlos ist, ganz egal —, dass jeder Mensch seine paar Jahre zum Leben hat und dann stirbt?

Ja, so ist es, sagt Richard.

Danach sagt Awad noch ein paar Dinge, so als wolle er Richard das Schweigen erleichtern. Ein Dreivierteljahr war er in einem Camp auf Sizilien, mit zehn Leuten in einem Zimmer. Dann musste er raus. Von dem Moment an, in dem sie dich aus dem Haus rausschicken, musst du selbst einen Schlafplatz finden, du bist frei! Kein Job, kein Ticket, kein Essen, du kannst keine Unterkunft mieten. Mi dispiace, poco lavoro. Es gibt keine Arbeit. Und am Ende des Tages bist du immer noch auf der Straße. Wenn deine Eltern dich nicht gut erzogen haben, wirst du ein Dieb. Wenn du gute Eltern hattest, wirst du kämpfen, um zu überleben. Poco lavoro. Poco lavoro. Aber Richard, was soll man essen? Richard hat Foucault gelesen und Baudrillard und auch Hegel und Nietzsche. Aber was man essen soll, wenn man kein Geld hat, um sich Essen zu kaufen, weiß er auch nicht. Du kannst dich nicht waschen, fängst an zu stinken. Sempre poco lavoro. So ging es uns auf der Straße. Ich schlief im Bahnhof. Tagsüber lief ich herum, abends kam ich in den Bahnhof zum Schlafen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie ich die Tage verbrachte. Richard, du glaubst, ich sehe dich an, but I don’t know where my mind is. I don’t know where my mind is.