Was für eine schöne, nur leider unübersetzbare Wendung, denkt Richard, und das trotz des Reichtums der deutschen Sprache. Ich bin mit meinen Gedanken woanders? Ich weiß nicht, wo mein Geist ist? Meine Seele? Oder einfach: Das bin eigentlich gar nicht ich?
Einmal half Awad drei Tage in einer Küche aus, Saubermachen und Abwasch, und bekam dafür 80 Euro. Mit dem Geld ging er in ein Reisebüro, um einen Flug nach Deutschland zu buchen. Was sollte er sagen, als die Frau in dem Reisebüro ihn fragte, ob er nach Köln wolle, nach Hamburg, München oder Berlin? Er kannte Köln nicht, kannte auch Hamburg nicht, München nicht und auch nicht Berlin. Einfach nach Deutschland. Die Frau in dem Reisebüro wurde ungeduldig mit ihm, aber ihm war das gleich, sein mind was not there, da ist sie wieder, die schöne Unübersetzbarkeit: er war in Gedanken, abwesend, nicht bei Sinnen, jenseits von allem?
Krieg für Krieg haben die deutschen Kinder seit 1613 den Maikäfer vom Handrücken ins Jenseits fortfliegen lassen:
Maikäfer flieg!
Der Vater ist im Krieg,
die Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer flieg!
Und auch Goethes Iphigenie, Emigrantin auf Tauris, ist zugleich da und abwesend, das Land ihrer Kindheit mit der Seele suchend. Wenn man das so sah, war es geradezu lächerlich, einen Übergang am Vorhandensein eines Körpers zu messen. Wenn man das so sah, stand für einen Flüchtling die Unbewohnbarkeit von Europa plötzlich in einem Verhältnis zur Unbewohnbarkeit seiner eigenen Hülle aus Fleisch, die dem Geist eines jeden Menschen eigentlich auf Lebenszeit als Wohnung zugewiesen ist. Dann also eben Berlin. Ungewaschen saß er im Flugzeug. Nach der Ankunft sprachen rings um ihn alle die neue fremde Sprache, er verstand nichts mehr, konnte nur nicken. Sah Leute in einen Bus steigen: Fährt der ins Zentrum? Drei Nächte am Alex. Ein Mann sagte ihm, es gebe da einen Platz. Mit Afrikanern wie mir? Dann kann ich mich dort bestimmt endlich waschen. Der Mann kaufte ihm eine Fahrkarte am Automaten. Eine Maschine, aus der ein Fahrschein kommt? Deutschland is beautiful!
Dann sah er die Zelte.
Ich stand allein. Der Mann ging weg. Noch nie in meinem Leben hatte ich in einem Zelt geschlafen.
Da sollte er wohnen?
In einem Zelt?
Er stand inmitten der Zelte und weinte.
Aber dann hörte er jemanden Arabisch sprechen, mit libyschem Dialekt.
Am Oranienplatz bekam er zu essen. Und einen Schlafplatz.
Der Oranienplatz sorgte für ihn, so wie in Libyen sein Vater.
Seinen Vater wird er niemals vergessen, und ihn immer in Ehren halten.
Und genauso wird er auch den Oranienplatz nie vergessen und immer in Ehren halten.
Das sagt Awad zum Abschluss des Gesprächs, und danach gibt es wirklich nichts mehr zu sagen.
15
Wann hat Richard eigentlich Gottfried von Straßburg gelesen? Bevor er damals auf dem Hinterhof in der glühenden Hitze stand und wartete, dass seine Frau wieder herunterkam? Oder irgendwann in den Jahren danach? Jedenfalls waren ihm nach dem Tod seiner Frau manchmal die Zeilen über die Liebe zwischen Blanscheflur und Riwalin wieder in den Sinn gekommen: Er war sie und sie war er./ Er war ihr und sie war sein. Blanscheflur liebte Riwalin, Tristans Vater, so sehr, dass sie, nachdem er in der Schlacht gefallen war, nur noch sein Kind zur Welt brachte und dann totlichen herzsmerz erlitt. Welchen Namen sollte das Kind bekommen? Der Marschall schwieg lange, heißt es im Epos. Er dachte sehr tief nach. In Trauer empfangen und in Trauer geboren, wird das Kind von ihm schließlich Tristan genannt, denn: »Triste «heißt» Trauer«. Es fällt Richard schwer, sich die fremden Namen der Afrikaner zu merken, und so verwandelt er, als er abends seine Notizen aufschreibt, Awad in Tristan, und den Jungen von vorgestern in Apoll. Dann kennt er sich auch später noch aus.
Am nächsten Morgen beim Frühstück gehen ihm verschiedene Fragen durch den Kopf. Warum eigentlich wird den Männern in einem Land, in dem selbst der Anspruch auf einen Himmel im Jenseits von der Arbeit abhängt, das Recht, arbeiten zu gehen, verweigert? Warum werden sie hier eigentlich nicht nach ihrer Geschichte gefragt, und dementsprechend als Kriegsopfer versorgt? Den Tag verbringt er mit dem Studium der Dublin II genannten Verordnung, und erst, als er die Lampe an seinem Schreibtisch schon wieder einschalten muss, versteht er, dass dieses Gesetz nur die Zuständigkeit regelt.
Es geht in dieser Verordnung gar nicht darum zu klären, ob diese Männer Kriegsopfer sind.
Zuständig für den Inhalt ihrer Geschichte ist einzig das Land, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Nur dort dürfen sie um Asyl bitten, nirgends sonst. Wie dieses jeweilige Land aber dann mit ihnen umgeht, ist nun einmal verschieden geregelt.
Österreich und die Schweiz hatten eine Zeitlang die begehrteren Grenzen, als auf dem Balkan noch Krieg war. Nun, da in Afrika manches anders geht als gedacht, sind es Griechenland und Italien, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen müssen. Bräche eines Tages aber zum Beispiel ein Krieg aus zwischen Alaska und Island, so dass die Isländer fliehen, wären es wahrscheinlich Norwegen und Schweden, die den Menschen, die nicht in ihre Heimat zurückkehren können, Pässe ausstellen müssten und ihnen Arbeit geben und die Möglichkeit, sesshaft zu werden — oder auch nicht.
Richard versteht: Mit Dublin II hat sich jedes europäische Land, das keine Mittelmeerküste besitzt, das Recht erkauft, den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen, nicht zuhören zu müssen.
Ein sogenannter Asylbetrüger wäre also auch jemand, der eine wahre Geschichte dort erzählt, wo man sie nicht anhören muss, geschweige denn darauf reagieren. Und mit dem neuen Fingerabdruck-System werden, so ist zu lesen, Missverständnisse darüber, wer zu der Gruppe, die man anhören muss, und wer zur anderen Gruppe gehört, bald vollkommen ausgeräumt sein.
Ihm fällt wieder ein, wie Tristan gestern gesagt hat, er bekomme die Bilder von den Toten auf den Straßen von Tripoli nicht mehr aus dem Kopf. Wenn man ein Fremder wird, hat man keine Wahl. Da irgendwo liegt das Problem, denkt Richard, dass die erlebten Geschichten ein Ballast sind, den man nicht abwerfen kann, während von denen, die sich die Geschichten aussuchen dürfen, eine Auswahl getroffen wird. Auf dem Weg von Tristans Zimmer nach unten hatte er im lindgrünen Treppenhaus die ältere Dame getroffen und sie danach gefragt, warum Awad eigentlich bei einer Psychologin gewesen sei. Weinkrämpfe, hatte sie gesagt. Manchmal über Stunden. Keiner von uns hier hat gewusst, was man da machen soll.