Während Richard am Schreibtisch sitzt und liest, und sein Spiegelbild auf der schwarzen Fensterscheibe nur seinen grauen Haarschopf zeigt, versteht er noch etwas andres. Die italienischen Gesetze haben andere Grenzen im Sinn als die deutschen Gesetze. Das interessiert ihn, denn solange eine Grenze, so wie er es den größten Teil seines Lebens gekannt hat, auf einem bestimmten Streifen der Erde verläuft und entweder in eine oder in beide Richtungen nur nach Kontrollen durchlässig ist, sind die Absichten der beiden Länder an der Ausrichtung des Stacheldrahts, der Positionierung der spanischen Reiter und ähnlichen Dingen klar zu erkennen. Sobald aber nur noch Gesetze über die Ländergrenzen bestimmen, verschwimmt die Eindeutigkeit, der eine antwortet gleichsam auf eine Frage, die der andere gar nicht gestellt hat, und der zweite wiederum spricht über alles, nur nicht über das, was der erste herausfinden will.
Das Gesetz verlagert sich tatsächlich von der physischen Wirklichkeit ins Reich der Sprache.
Der Fremdling nun, der in keinem von diesen Ländern zu Haus ist, gerät zwischen die unsichtbar gewordenen Fronten, in eine innereuropäische Diskussion, die mit ihm und dem wirklichen Krieg, den er hinter sich lassen will, nicht das geringste zu tun hat.
Italien zum Beispiel lässt die Flüchtlinge gehen, gern sogar, denn es hat mehr als genug von ihnen. Das italienische Gesetz gibt ihnen die Freiheit, nach Frankreich, Deutschland, in jedwedes europäische Land zu gehen, um Arbeit zu suchen. Deutschland aber will sie — aus Gründen, die Richard bis jetzt noch nicht klar sind — nicht haben, nach drei Monaten Aufenthalt als Touristen sollen sie wieder für mindestens ein Vierteljahr nach Italien zurück. In Deutschland Arbeit suchen dürfen sie erst nach fünf ununterbrochenen Jahren des Asyls in Italien — und das auch nur, wenn sie von den Italienern nach diesen fünf Jahren eine sogenannte Illimitata bekommen, ein Dokument, das sie aufenthaltsrechtlich den Italienern gleichstellt. Solange sie keine Illimitata besitzen, dürfen sie zwar Italien verlassen, um dort nicht zu verhungern, aber anderswo ankommen dürfen sie nicht.
Einen Moment lang stellt Richard sich vor, jemand würde ihm auf Arabisch diese Gesetze erklären.
Dann steht er auf, macht fünf Kniebeugen, um sich nach dem langen Sitzen am Schreibtisch in Bewegung zu bringen, und bindet sich einen Schlips um. Am Abend ist er drei Gärten weiter bei seinem Freund Detlef zum Geburtstag geladen. Sylvia, die Frau seines Freundes, war im vergangenen Jahr lange krank, deswegen kommt das Buffet zum ersten Mal von einem Catering-Service. In warmgehaltenen Edelstahlschüsseln gibt es Wildschweinbraten, Fisch, Reis und Petersilienkartoffeln, daneben eine Terrine mit asiatischer Suppe, auf kalten Platten Hühnchenspieße, Quiche Lorraine, in Schälchen grüne und schwarze Oliven, getrocknete Tomaten, Kapern und glasierte Zwiebeln, eine rosafarbene und eine grünliche Creme, verziert mit Petersilie, Reissalat, in Scheiben geschnittene Entenbrust, Weißbrot und Schwarzbrot, Senf, Mayonnaise, Ketchup und grünen Salat. Und zum Nachtisch verschiedene Früchte, Schokoladenkuchen und Mascarpone mit Himbeeren. Er weiß gar nicht, ob er so großen Hunger hat.
Richard, was soll man essen?
Es klingelt wieder, ein Blumenstrauß, ein Mantel, lass die Schuhe ruhig an. So ein Catering Service ist wirklich gar keine schlechte Idee. Fanden wir auch. Und das Geschirr nehmen die sogar unabgewaschen wieder mit. Ach, wirklich?
Noch immer sind er und seine Freunde damit beschäftigt, die Segnungen dieser anderen Welt, die sich seit bald fünfundzwanzig Jahren immer enger mit der ihren verschlingt, zu erforschen. Noch immer ist es für die Bewohner einer Straße, die früher einmal nach dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands Ernst-Thälmann-Straße hieß, nicht selbstverständlich, dass die kleinen blauzüngelnden Flammen das Essen tatsächlich über zwei Stunden so heiß halten, als käme es frisch aus der Küche.
Es schmeckt gut, wirklich, und ich hatte Angst, dass es nicht reicht, nur die Schokoladentorte ist irgendwie, ach was, überhaupt nicht.
Von den zwölf oder fünfzehn Freunden, die Richard jedes Jahr auf dieser Feier trifft, kennt er die meisten ein halbes, manche beinahe ein ganzes Leben lang. Mit dem Gastgeber ist er schon seit der Schulzeit befreundet. Detlefs erste Frau Marion, die jetzt auf der Terrasse steht, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen, hat Detlef auf der Party zu Richards 25. Geburtstag kennengelernt, damals war sie Cellistin in demselben Orchester, in dem Richards Frau Christel zu der Zeit Bratsche spielte. Während des Studiums haben Richard und Christel deren Baby manchmal gehütet, wenn die beiden ausgehen wollten. Inzwischen sind Detlef und Marion schon seit beinahe vierzig Jahren kein Paar mehr, sind aber Freunde geblieben, der gemeinsame Sohn baut Brücken in China, Marion hat nach der Auflösung des Orchesters einen Teeladen eröffnet und lebt mit ihrem jetzigen Mann in der Nähe von Potsdam. Die Fotografin Anne, die auf dem Sofa sitzt, war eine Wilde. Zwei, drei Nächte hat Richard kurz nach dem Abitur mit ihr verbracht, nach dem Mauerfall hat sie dann eine Weile in Frankreich gelebt, aber seit zwei Jahren ist sie wieder hier, um sich um ihre alte Mutter zu kümmern. Was sie da vorn hingebaut haben, ist eine riesige Schweinerei, es geht eben nur noch um Geld. Der Dicke, der auf der Bank sitzt, hat Wirtschaftsgeschichte studiert und danach selbst an der Uni gelehrt, aber im Westen war sozialistische Wirtschaftsgeschichte das falsche Fach, er repariert jetzt Computer, seine Frau teilt ihm die Zigaretten ein, drei Schachteln pro Woche, und es ist nicht ganz klar, ob aus Geiz oder aus Sorge, zur Party kommt er jedenfalls immer allein. Eine Alarmanlage ist gar keine schlechte Idee. Weißt du, im Dezember fahr ich zur Kur. Da hast du recht, und wohin denn? Manche von Detlefs Freunden brauchen inzwischen, wenn sie die Bücher auf dem Geschenktisch anschauen, eine Brille, um den Text auf der Rückseite zu lesen. Mit Monika, der Germanistin und ihrem schnurrbärtigen Mann Jörg, die am Fensterbrett lehnen, waren Richard und Christel oft zusammen im Urlaub, meist an der Ostsee. Ich darf mein Enkelkind nicht mehr nehmen, meine Schwiegertochter hat sich da so. Ich war bis vor zwei Wochen drüben, Chicago, eine Gastprofessur. Sylvia, die zweite Frau seines Freundes ist eine Stille. Man sieht ihr an, dass das Jahr für sie nicht leicht war. Als sie, lang vor der sogenannten Wende, zu Detlef ins Haus zog, trug sie noch einen Pferdeschwanz und sah aus wie ein Mädchen. Christel half ihr manchmal am Schluss des alljährlichen Festes, wenn alle schon weg waren, beim Abwasch, während Richard mit Detlef die zusätzlichen Stühle wieder in die anderen Zimmer zurücktrug. Gern nehm ich noch einen Wein. Ja, einen roten. Für mich bitte ein Wasser, Medium, wenn ihr das da habt. Manche von diesen Freunden haben ihr Geld nach der Wende in Eigentumswohnungen gesteckt, weil sie dachten, das mache man so, jetzt, im Westen. Hatten die schimmligen Höhlen in Köln, Duisburg, Frankfurt am Main nie gesehen, für die sich kein Mieter fand, und waren dann pleite. Die Grafikerin dort hätte gern Kinder gehabt, aber hatte immer die falschen Männer. Ich bin in meinem Leben wirklich genug gereist. Will jemand noch Bier? Die Merkel ist immerhin Physikerin, das sollte man nicht vergessen. Ob Detlef schon ein künstliches Gebiss hat? Aber das fragt man nicht einmal einen guten Freund. Habt ihr gehört, der Krause ist letzte Woche gestorben. Mit dem Krause hat Christel einmal etwas gehabt. Vor seiner Zeit. Ein Zahnarzt. Im Sommer hab ich die Pyramiden gesehen. Der Journalist nimmt ihn manchmal zu Opernpremieren mit, auf seinen Presseausweis, letztes Frühjahr zum Beispiel in die Premiere von» Carmen«. Und Andreas, der ernste Geselle, der an der Kredenz lehnt, hatte vor zwei Jahren einen Schlaganfall, ist seither invalidisiert und hat begonnen, Gedichte zu schreiben, die er seinen Freunden hier und da vorliest. Aber einen Verlag zu suchen, ach, das hat doch bei der Menge an Büchern, die jetzt auf dem Markt sind, gar keinen Sinn. Bei der letzten Feier hat er erzählt, dass er nur noch Hölderlin liest. Alles andre kannst du vergessen. Als die Mauer noch da war, war die Hauptstadt der Republik ein überschaubares System, jeder weiß hier von jedem soviel, dass es wie ein lebenslanges Geflecht ist. Die Hecke ist schon so hoch, wie macht ihr das nur? Das liegt an der Erde. Im März war die Operation, aber gottseidank keine Chemo, du wirst sehen, das wird schon. Die meisten von diesen Freunden sind, so wie er, ganz am Ende des Krieges oder schon im Frieden geboren. Seine Mutter hat noch mit ihm, dem Säugling, im Luftschutzkeller gesessen, sein Vater war an der Front. Zu DDR-Zeiten wär das undenkbar gewesen. Ist doch klar, was im Nahen Osten jetzt läuft, da werden die ehemals sozialistischen Länder systematisch, eins nach dem andern, niedergemacht. Nun sterben die ersten, und es ist hier in Europa immer noch Frieden. Wenn sein Freund im Sommer Geburtstag hätte, könnten sie auf der Wiese grillen, doch so sitzen sie immer drinnen. Was macht eigentlich der Joachim? Der hat’s nicht leicht, er trinkt wohl, aber das ist auch kein Wunder.