Die Aussprache ist vielleicht ungewohnt, sagt er, und dann die unregelmäßigen Verben.
Das ist nicht der Grund. Es gibt so viel Unruhe im Leben der Männer, da ist im Kopf kein Platz für Vokabeln. Sie wissen nicht, was mit ihnen werden soll. Sie haben Angst. Es ist schwer, eine Sprache zu lernen, wenn man nicht weiß, wozu.
Wie lange schon war er nicht mehr mit einer Frau beisammen?
Was diese Männer, um zur Ruhe zu kommen, unbedingt brauchen, ist Frieden, sagt sie.
So hat er das noch nie gesehen: Dass das, was ihm hier Frieden zu sein scheint, für diese Männer, solange sie nicht ankommen dürfen, im Prinzip immer noch Krieg ist.
Die Lehrerin nimmt ihre Tasche, er schiebt seinen Stuhl zurück an den Tisch.
Machen Sie bitte, bevor Sie gehen, das Licht aus? Und schon hat sie Wiedersehen gesagt und ist draußen. Sie ist schnell, das gefällt ihm.
Dieses ewig flackernde Neonlicht, das die Taghelle aufweicht.
Aus.
Beim Blick über die Schulter sieht der Saal jetzt wirklich sehr leer aus. Jungfrau Astraia, der Himmlischen Letzte, hat ihn verlassen. Diese Tische, an denen er und die Flüchtlinge eben noch saßen, sind, erst jetzt wird ihm das klar, tatsächlich zu klein für erwachsene Schüler. Ausrangierte Tische sind das aus einer Schule für Kinder, wahrscheinlich aus der Polytechnischen Oberschule Johannes R. Becher, die jetzt Grundschule am See heißt. Der Dichter Johannes R. Becher hat den Text der DDR-Nationalhymne geschrieben und ist später Kulturminister gewesen. An der Seite der Tische sieht Richard noch die Haken für die Ranzen der Schüler von vor dreißig Jahren, der jungen Pioniere, die inzwischen längst Verkäuferin, Ingenieur oder arbeitslos sind, ein- oder zweimal geschieden, null bis vier Kinder. Die Stühle sind zusammengewürfelt, manche mit gelbem, manche mit weinrotem Polster, manche aus Holz, andere aus Metall. Er kennt diese Stühle gut. Stühle aus der Zeit der Parteiversammlungen, der Wohngebietsclubs, der Betriebsfeiern zum Jahrestag der Republik. Überall, wo der Westen Einzug hielt, wurde als erstes dieses sozialistische Mobiliar auf den Müll geworfen. Und sogar jetzt, bald fünfundzwanzig Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung, kann man noch manchmal, wo geräumt und gebaut wird, aus Sperrmüllcontainern die ineinander verhakten Beine dieser aus der Mode gekommenen, immer in großen Mengen auftretenden, hölzernen oder graubeinigen Stühle ragen sehen. Seine Mutter hätte gesagt: Die sind doch noch gut. Diesen Satz hat er schon lange nicht mehr gehört. Vielleicht hätte er heute das hellblaue Hemd anziehen sollen.
17
Für den nächsten Tag hat Richard sich vorgenommen, Raschid und Ithemba noch einmal zu suchen. Der Sicherheitsdienst kennt ihn nun schon und lässt ihn allein hinaufgehen. Der Billardtisch ohne Kugeln, das geschwungene Treppengeländer, im ersten Stock noch immer kein Wasser.
Gerade als er im zweiten Stock die lindgrüne Tür mit der 2017 erreicht und anklopfen will, fliegt sie mit einem Krach vor ihm auf und ein rasender Raschid stürmt blindlings, hinter sich drei, vier andre, an ihm vorbei Richtung Treppe. Von dort hört Richard jetzt ein unverständliches Rufen mehrerer Stimmen und rasche, stampfende Schritte treppauf- und abwärts. Das Türblatt schwingt noch in den Angeln, im Zimmer ist niemand, so geht Richard der wilden Jagd ins Treppenhaus nach, nach oben sind sie gelaufen und kommen gerade wieder herunter. Gerade hat er noch Zeit, in den Flur auszuweichen. Unheilvoll ist es, dem Olympier entgegenzutreten. Schon einmal hat er mich, als ich helfen wollte, am Fuß gepackt und von der himmlischen Schwelle hinabgeworfen. Einen ganzen Tag flog ich, und erst als die Sonne unterging, fiel ich nieder in Lemnos, und nur noch wenig Leben war in mir. Raschid poltert, ohne Richard auch nur zu bemerken, die Treppe hinunter, ihm folgen inzwischen nun schon zehn oder zwölf jüngere Männer, einer von ihnen Apoll, dessen Locken aufgrund der heftigen Bewegung auf und ab springen, als gelte es ein großes Vergnügen. Das Neonlicht im Treppenhaus ist wieder ins Flackern geraten, der lindgrüne Dämmer deshalb nur momentweise erhellt von zuckenden Blitzen. Was ist eigentlich oben im dritten Stock, wo Richard noch nie war, da unter dem Dach? Er steigt aufwärts und findet sich dort, wo die Treppe zu Ende ist, vor einer weiteren offenen Tür mit noch in den Angeln auspendelndem Türblatt: dahinter ein großer Raum, in dem sitzen um einen runden Tisch drei, vier Gestalten. Bis auf das Gurgeln einer Kaffeemaschine ist es ganz still. Als Richard näher tritt, sieht er, dass eine von den Sitzenden die ältere Dame ist, die ihn anfangs immer zu den Männern begleitet hat. Offenbar ist hier das Büro der vom Senat eingesetzten Betreuer. Mitten im Raum liegt ein Stuhl mit verbogenen Beinen, um den geht er herum, dann schüttelt er Hände. Niemand fragt ihn, warum er hier ist, die ältere Dame hat vielleicht von ihm erzählt. Nunja, sagt er, da ist wohl irgendetwas im Gange, die anderen nicken, dann werd ich mal wieder, sagt er und grüßt. Beim Hinausgehen versucht er, den Stuhl aufzuheben, aber weil das eine Bein rechtwinklig abgeknickt ist, fällt der Stuhl gleich wieder um. Sich entschuldigend für diesen missglückten Versuch, Ordnung zu schaffen, wendet er sich noch einmal zu der schweigenden Gruppe, einer von den Betreuern schlürft nun wieder seinen Kaffee, war das Raschid? fragt Richard und zeigt auf den Stuhl, die anderen nicken. Das Licht im Treppenhaus hat sich inzwischen beruhigt, der Blitzeschleuderer ist nirgends mehr zu sehen oder zu hören.
Unten beim Ausgang telefoniert der eine vom Sicherheitsdienst, den anderen fragt Richard, was eigentlich los sei, und erfährt, dass die Männer wohl morgen umziehen sollen, und zwar in ein Heim, das mitten im Wald liegt, siebeneinhalb Kilometer entfernt von Buckow.
Von Buckow? Und morgen?
Ich hab keine Ahnung, ich bin hier nur der Sicherheitsdienst.
Nach Buckow braucht Richard, selbst mit dem Auto, mindestens eine Stunde, und nur, wenn kein Stau ist. Aber das geht doch nicht, sagt er, der vom Sicherheitsdienst zuckt mit den Schultern.
Heute Nachmittag 14 Uhr machen sie eine Versammlung, hier ist der Zettel. Auch vom Senat kommt vielleicht jemand.
Eigentlich wollte Richard heute einkaufen gehen, aber jetzt ist er zu aufgebracht, um an den Einkauf zu denken. Die Leute, die solche Beschlüsse verkünden, wissen wohl nicht, was es heißt, ernsthaft zu recherchieren. Eben erst hat er begonnen, seine Gespräche mit den Männern zu führen, da wirft man ihm gleich wieder Steine in den Weg. Auch an der Uni gab es solche Beamte, die glaubten, dass es wichtiger sei, die Reisebelege zu stempeln, das Krankenversicherungsformular zu erneuern, die Anzahl der im Büro verbrachten Stunden in eine Liste zu schreiben — als dass man die Arbeit tun konnte, für die man ursprünglich bestellt war: Zum Beispiel zu untersuchen, ob es Zahlenverhältnisse gab, die für die Schönheit eines Verses ebenso wichtig waren wie für die Stabilität eines Schneckengehäuses. Oder in Erfahrung zu bringen, wo in der Literatur der Augusteischen Zeit Jesus in Erscheinung trat als letzter griechischer Gott. Sicher, man konnte das Passwort für die dienstliche Email-Adresse zum achten Mal ändern, aber man konnte auch danach fragen, wie sich das, was ein Autor selbst nicht von sich wusste, in seinen Text einschrieb. Und wer überhaupt war in diesen Passagen der Sprecher?
Deshalb macht Richard sich, obgleich sein Bedarf an Versammlungen, die seine Lebenszeit schlucken, seit langem gedeckt ist, um zwanzig vor zwei auf den Weg zu dieser vermaledeiten Versammlung.
Der Unterrichtssaal ist schon bis auf den letzten Platz besetzt, viele Männer sitzen, die Knie eingezwängt, an den zu kleinen Tischen, am Rand stehen Betreuer und Leute vom Sicherheitsdienst, die Diskussion wird gerade eröffnet. Weil der schmächtige, blondgescheitelte Herr vom Senat, der vorn steht, weder Englisch, noch Französisch, noch Italienisch noch gar Arabisch sprechen kann, folgt eine ähnliche Übersetzungsprozedur wie diejenige, der Richard vor einiger Zeit in der besetzten Schule beigewohnt hat. Aber wir können froh sein, dass vom Senat überhaupt einer da ist, raunt ihm einer von den Männern zu, die er heute Mittag am stummen Betreuertisch hat sitzen sehen. In blondgescheiteltem Deutsch ist jetzt zu vernehmen: Wir haben volles Verständnis für Ihre Lage! Sie haben viel beigetragen zur friedlichen Lösung der unhaltbaren Situation auf dem Oranienplatz! Und andere, ähnliche Sätze. Der Beamte sieht nicht so aus, als sei er sehr glücklich über seine Entsendung zu diesen Dahergelaufenen, die immer nur Forderungen haben und nie zufrieden sein können. Wahrscheinlich hat er, gemessen an anderen Mitgliedern der Senatsverwaltung, eine recht niedrige Stellung oder wird durch diesen Auftrag auf die Probe gestellt. Fast könnte er Richard leidtun. Aber was wollen die denn auch schon wieder, Querulanten, denen der Senat, ohne rechtlich dazu gezwungen zu sein, bis zur Klärung der einzelnen Fälle immerhin 300 Euro pro Monat bezahlt, denen die Stadt, für eine gewisse Zeit zumindest, Monatskarten schenkt und auf zwölf halben Stellen Betreuer für Gänge zu Ärzten und Behörden?