Bei den Windpocken jedenfalls, soviel ist sicher, handelt es sich um eine Virusinfektion, die, wenn sie unter Erwachsenen ausbricht, über zwei Wochen lang ansteckend sein kann. Der Umzug findet morgen nicht statt, und so bleibt Zeit, nach einem andern, geeigneteren Quartier für die Flüchtlinge zu suchen. Auf dem Weg nach draußen spricht Richard den Blitzeschleuderer an, der sich nun wieder beruhigt hat, und fragt ihn, ob sie sich morgen nicht treffen wollen für das erste Gespräch. No problem, sagt der, und es scheint wirklich so, dass er sich nicht daran erinnert, den Professor heute Vormittag gesehen zu haben, als er vor Zorn schnaubend aus seinem Zimmer herausfuhr.
18
Eid Mubarak heiße das Fest, mit dem man das Ende des Fastenmonats Ramadan feiere. Die Männer gehen vormittags zum großen Gebet, während die Frauen zu Hause das Essen zubereiten. Dann essen alle zusammen, von mittags an bis in die Nacht. Die Kinder bekommen Geschenke oder ein Taschengeld, damit sie während der zwei Feiertage Spaß haben können. The children should have fun, sagt Raschid. Alle tragen ihre neuen Gewänder, einen Stoff hat mein Vater zu Eid Mubarak immer für die Frauen in unserer Familie gekauft, und einen anderen Stoff für die Männer: mich, meine Brüder und Neffen. Im Jahr 2000 war es ein blauer Stoff. Dieses blaue Gewand hatte ich an dem Tag an, und dazu eine Kappe.
Richard und Raschid sitzen bei geschlossener Tür in einem Kämmerchen gleich neben dem Eingang. Einer der Männer vom Wachdienst hat ihnen, als Richard nach einem ruhigen Platz fragte, diesen Raum aufgesperrt. Nun sitzen die beiden zwischen zusammengefalteten Kartons, die schon für den Umzug bereitgestellt sind, und Türmen aus übereinandergestapelten Stühlen, Raschid hat sich einen Stuhl mit weinrotem Polster heruntergenommen, Richard sich einen mit gelbem.
Zu Eid Mubarak versöhnt man sich mit allen, mit denen man das Jahr über Streit hatte, sagt Raschid. Man besucht die Familie. Spendet für die Armen. Kennst du die fünf Säulen des Islam?
Richard schüttelt den Kopf.
The five pillars of Islam are: Erstens das Vertrauen auf Gott, zweitens das Beten, drittens das Teilen mit den Armen, viertens das Fasten während des Ramadan, und fünftens, wenn man es sich leisten kann, wenigstens einmal im Leben das Pilgern nach Mekka.
Aha, sagt Richard.
Wer tötet, ist kein Muslim.
Richard nickt.
Nur, wenn man essen will, darf man töten, aber niemanden, auch nicht das kleinste Insekt, das deinen Weg kreuzt, darfst du einfach so, ohne Grund töten. Es kann sein, dass auch so ein Tier Kinder zu Hause hat, die warten. Man weiß es nicht. Nie.
Nein, sagt Richard.
Nicht einmal eine Fliege!
Gut, sagt Richard.
Wer tötet, ist kein Muslim.
Wenn Sommer ist, saugt Richard die Fliegen und Wespen, die um sein Essen herumschwirren, mit dem Staubsauger ein. Im ersten Studienjahr ist er aus der Kirche ausgetreten.
Und auch Jesus ist im Koran ein Prophet, sagt Raschid.
Einmal hat Richard in seinem Seminar über» Jesus, den letzten griechischen Gott «die Szene der Jesusgeburt in den verschiedenen Evangelien der Bibel auch mit der entsprechenden Szene im Koran verglichen. Deswegen weiß er, dass Maria im Koran ganz allein ist, als sie Jesus zur Welt bringt. In einer entlegenen Gegend bringt sie ihn zur Welt, sie hat solche Schmerzen, dass sie sagt: Oh dass ich doch zuvor gestorben und vergessen und verschollen wäre! Ob seine Studenten verstanden, was das hieß, dass Maria nicht nur gestorben, sondern auch vergessen sein wollte? Aber solche Dinge ließen sich nicht unterrichten. Er hatte nur darauf hingewiesen, dass gleich im Anschluss an die Verzweiflung Marias das Neugeborene unter ihr auf einmal zu sprechen beginnt: Direkt aus der Not Marias kommt also das Wunder des Sprechens. Das Kind spricht, um seine Mutter zu trösten, es spricht von einem Bach — und der Bach ist da, dann spricht es zu ihr von einem Baum — und der Baum ist da. Maria findet sich in eine paradiesische Landschaft versetzt, sitzt am Rand eines Baches, hat eine Dattelpalme zu Häupten, sie isst und trinkt, und als sie später mit dem Kind auf dem Arm wieder zu den Menschen zurückkehrt und gefragt wird, woher das Kind, muss sie selber nichts sagen, denn statt ihrer spricht der eben geborene neue Prophet, 54 Zentimeter ist er erst groß, und wiegt 3500 Gramm.
Das Paradies ist unter den Füßen der Mutter, sagt Raschid. Richard versucht, sich diesen Mann, der da neben ihm sitzt, in einem blauen Gewand und mit einer Kappe auf dem Kopf vorzustellen. Gern würde ich meine Mutter noch einmal wiedersehen, bevor sie stirbt, sagt Raschid. Sie ist jetzt siebzig. Aber wenn ich nach Nigeria zurückgehe, kann ich nicht mehr zurück nach Deutschland.
Warum willst du eigentlich nicht für immer nach Nigeria zurück?
Raschid antwortet nicht auf die Frage. Mein Vater, sagt er, war sehr beliebt. Jeder wollte ihm seine Tochter zur Frau geben. Am Ende hatte er 5 Frauen und 24 Kinder. Ich war der erste Sohn nach 10 Töchtern, meine Mutter die dritte Frau meines Vaters. Abends saßen wir beim Essen alle um einen großen Tisch. Ich durfte vom Teller meines Vaters essen. Jeden Morgen um Viertel nach sieben, mein Vater war noch ganz verschlafen, stellten wir größeren Kinder uns in einer Reihe vor seinem Sessel an, dann drückte er uns das Essensgeld für die Schule in die Hand. Der Sultan hält Audienz auf einer Plattform. Drei Stufen führen hinauf. Die Plattform ist mit Seide belegt und mit Kissen. Darüber spannt sich ein Schirm, eine Art Pavillon aus Seide, auf dem ein Vogel in Gold ist, von der Größe etwa eines Falken. Es ertönen Trommeln, Trompeten und Jagdhörner. Zwei gesattelte und gezäumte Pferde werden gebracht, zusammen mit zwei Ziegen, als Schutz gegen den bösen Blick. Wenn einer den König anspricht und von ihm eine Antwort erhält, entblößt er danach seinen Rücken und wirft vor aller Welt Staub über seinen Kopf und seinen Rücken, wie ein Badender, der sich mit Wasser bespritzt.
Um halb acht kam dann der Fahrer des Lieferwagens, sagt Raschid, wir kletterten auf die Ladefläche, er holte noch ein paar Nachbarkinder ab und fuhr uns alle zusammen zur Schule.
Was für Fächer hattet ihr?
Englisch, Mathematik, im Nebenfach Hausa.
Raschid besucht, als er erwachsen ist, eine Berufsschule und lernt Schlosser.
Vier seiner Schwestern gehen auf eine höhere Schule. Eine studiert und wird Lehrerin.
Seltsam, denkt Richard, dass ihm erst jetzt wieder die Reisebeschreibungen Ibn Battutas eingefallen sind, der im 14. Jahrhundert von Marokko über Afrika und Mittelasien bis nach China gereist ist.
Sein Schulfreund Walther, der es zu DDR-Zeiten nur bis zum Reisekader für das sozialistische Ausland brachte, hatte extra Arabisch gelernt, um dieses Buch erstmalig ins Deutsche zu übertragen. Wo nach Walthers Tod das Manuskript wohl hingekommen sein mochte? Erschienen ist es jedenfalls nicht, denn der Verlag, der es hatte veröffentlichen wollen, ging gleich nach dem Mauerfall pleite. Richard hatte Walther damals beim Korrekturlesen geholfen.