24 Kinder von 5 Frauen, so ähnlich war es auch bei Walther gewesen, nur mussten dessen 4 Frauen gottlob nie unter einem Dach wohnen. Dem ältesten Sohn hatte Richard auf der Beerdigung von Walther beim Defilee die Hand gedrückt und gesagt, es tue ihm sehr, sehr leid, aber der Sohn hatte ihm nur geradenwegs in die Augen gesehen und gefragt: Ja, was denn? Angeblich hatten sofort mit dem Tod von Walther die Streitigkeiten der Exfrauen und Kinder um das Haus begonnen, für das dessen vierte Frau noch das Wohnrecht besaß. Jetzt, zu Westzeiten, war so ein Haus etwas wert. Helle, ausgewaschene und zerlöcherte Jeans hatte Walthers ältester Sohn auf der Beerdigung seines Vaters getragen. Hoffentlich stimmte es, was gesagt wird: Dass jemand, der unter der Erde liegt, keinen Schmerz mehr empfindet und nichts mehr spürt.
Zu Eid Mubarak haben immer alle Frauen gemeinsam gekocht, sagt Raschid. Es ist der höchste Festtag bei uns, man muss viel essen, man feiert ja das Ende des Fastens. Und das Haus wird vorher wochenlang aufgeräumt und geputzt, von oben bis unten. In dem Jahr, 2000, war der Stoff, den mein Vater für unsere Festtagsgewänder gekauft hatte, blau. Richard weiß plötzlich, dass er nun alles ganz genau wissen muss: Jede Speise, die auf diesem Tisch stand, der für Eid Mubarak gedeckt war, soll Raschid ihm beschreiben. Eggplant? Tomaten? Peperoncini in Öl? Fisch? Reis? Yamwurzeln? Plantains? Kalb, Hühnchen und Lammfleisch? Saßen die Frauen beisammen, oder saß jede mit ihren Kindern an einer bestimmten Stelle des Tisches? Stand der Tisch innen im Haus, auf einer Veranda oder im Freien? Am liebsten würde Richard überhaupt nicht mehr aufhören zu fragen. Es gibt also am Abend zur Beleuchtung Laternen mit buntem Glas? Nach dem Essen, wenn es schon dunkel wird, hängen die Kinder diese Laternen an lange Stäbe und machen einen Laternenumzug durch ihr Viertel? Sie singen dabei? Und die Erwachsenen besuchen ihre Verwandten? Am nächsten Tag geht man mit der ganzen Familie spazieren?
Aber den Abend und den nächsten Tag gab es in dem Jahr nicht mehr, sagt jetzt endlich Raschid.
Gegen elf am Vormittag, sagt Raschid, waren wir Männer gerade fertig mit dem Gebet. Der Gebetsplatz ist ungefähr so weit von unserem Haus entfernt wie die Oberbaumbrücke vom Alex. Wir wollten gerade nach Haus zu unseren Familien fahren, um mit dem Festessen zu beginnen, da überfielen sie uns. Mit Knüppeln, Messern, Macheten. Mein Vater wollte eben sein Auto aufschließen, da kamen sie angerannt, trieben uns auseinander, begannen, auf uns einzuschlagen, mit Knüppeln, und einzustechen, mit Messern, Macheten, dann stießen sie meinen Vater ins Auto, stiegen zu dritt bei ihm ein, er musste mit ihnen wegfahren, das war das letzte, was ich von ihm sah. Drei Wochen vorher hatte er seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag gefeiert.
Raschid hat kräftige, sehr schwarze Hände, sie liegen auf seinen Knien, nur die Fingerkuppen sind klein und die Haut unter den Nägeln ist rosig.
Vor der Stadt haben sie ihn in seinem Auto verbrannt.
Richard und Raschid sitzen beide einen Moment lang da, ohne etwas zu sagen.
Weiß man, wer das getan hat? fragt Richard schließlich.
Raschid antwortet nicht.
Es war sehr schlimm, sagt er nach einer Weile. Warum töten Menschen andere Menschen?
Das ist die viel richtigere Frage, denkt Richard.
Raschid hat eine Narbe über dem Auge. Raschid hinkt, das hat Richard gestern gesehen.
Wir versuchten wegzukommen. Meine Brüder, meine Neffen, meine Onkel, die Nachbarn. Alle rannten und schrien. Überall lagen Leute herum, alles war voller Blut. Einer meiner jüngeren Brüder hatte sich zuerst in einem Mangobaum am Rand des Platzes versteckt. Bei Einbruch der Dunkelheit lief er zum Fluss hinüber und versteckte sich dort im Wasser, die ganze Nacht stand er aus Angst da im Wasser, auch am Ufer des Flusses haben sie Leute gelyncht, hat er später erzählt, er hat alles gesehen. Ich erinnere mich an den Geruch nach Rauch, sagt Raschid, während ich lief und lief. Die ersten Häuser fingen schon an zu brennen. Von der Oberbaumbrücke zum Alex. Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Ross, das trug ihn fort geschwind. Sankt Martin ritt mit leichtem Mut, sein Mantel deckt ihn leicht und gut. Im Jahr 2000 fiel der traditionelle Laternenumzug der Kinder in der nigerianischen Stadt Kaduna, von deren Existenz Richard erst seit zwei Wochen weiß, am Abend von Eid Mubarak aus. Beim letzten Laternenumzug zu Sankt Martin waren die hiesigen Kinder singend um den Schlossplatz gezogen, die junge Duisburgerin aber, die seit drei Jahren in demselben Mietshaus in Richards Straße wohnt und ihn in den letzten Monaten beim Einkaufen oder am Flaschencontainer hin und wieder merkwürdig angesprochen hat, manchmal auch stand sie auf dem Bürgersteig und stritt mit jemandem, der unsichtbar war, diese Duisburgerin also hatte sich, während die Kinder singend im Kreis um den Schlossplatz spaziert waren, in den dunklen Knallerbsenbüschen am Rande des Platzes versteckt gehalten und geheult wie ein Wolf.
Wir liefen, so schnell wir konnten, nach Hause, um die Frauen zu warnen. Die Frauen nahmen die Kinder und machten sich sofort auf den Weg — zu Freunden, zu ihren eigenen Eltern. Auch meine Mutter versteckte sich bei ihren Eltern auf dem Dorf. Ich habe nur ein Ersatzgewand aus dem Schrank genommen und in eine Tüte gestopft. Selbst die Hose dazu habe ich in der Eile vergessen. Kaum eine halbe Stunde, dann war kein Mensch mehr im Haus. Das Festessen stand noch unangerührt auf dem Tisch, als wir gingen. Nicht einmal die Tür haben wir hinter uns abgeschlossen. Wozu auch? Das Haus war von oben bis unten aufgeräumt und geputzt für Eid Mubarak. Von oben bis unten aufgeräumt und geputzt, als es niedergebrannt wurde, ein paar Stunden später.
Von einem Tag auf den andern hatte ich keinen Vater mehr, keine Familie, kein Haus, keine Werkstatt. Von einem Tag auf den andern war unser ganzes bisheriges Leben vorbei. Wir konnten unseren Vater nicht einmal begraben. Ich bin noch einmal zu meiner Mutter gegangen, um Abschied zu nehmen, dann bin ich nach Niger gefahren. Das war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Vor dreizehn Jahren. Wenn meine Mutter mich am Telefon fragt, wie es mir geht, sage ich immer: Gut.
Richard fällt ein, wie Raschid am Anfang dieses Gesprächs gesagt hat: Das Paradies liegt unter den Füßen der Mutter.
Ich kann kein Blut mehr sehen, sagt Raschid.
Und erst jetzt wird Richard klar, dass Raschid zwei Stunden gebraucht hat, nur um die Frage zu beantworten, die er ihm eingangs gestellt hat.
Wie mit einem Schnitt wurde unser Leben in dieser Nacht einfach von uns abgeschnitten.
Cut, sagt Raschid.
Cut.
Die beiden Männer vom Wachdienst grinsen, als Richard und Raschid wieder aus dem Kämmerchen kommen, und sagen: Das war aber ein langes Gespräch. Richard sagt: Ja.
Auf dem Weg nach Hause geht er in den Blumenladen und kauft einen riesigen Strauß mit bunten Astern. Noch nie hat er für sich selbst Blumen gekauft. Er stellt sie in einer großen durchsichtigen Vase auf den Tisch in der Küche. Jetzt ist es so, als sei seine Frau noch da. Oder seine Geliebte.
Letzte Nacht, das fällt ihm erst jetzt wieder ein, ist er aufgewacht und ist, statt pinkeln zu gehen, Zimmer für Zimmer durchs Haus gestrichen, einfach so, ohne etwas zu suchen. Einfach so, im Dunkeln, durch sein eigenes Haus gestreift wie durch ein Museum, als gehöre er selbst schon nicht mehr dazu. Zwischen den Möbeln, von denen er manche doch seit seiner Kindheit kennt, ist ihm sein eigenes Leben, Zimmer für Zimmer, plötzlich vollkommen fremd erschienen, vollkommen unbekannt, wie eine sehr weit entfernte Galaxie. Geendet hatte sein Rundgang in der Küche, mit Scham denkt er daran, wie er hier in der letzten Nacht auf einem Stuhl saß und, ohne den Grund selbst zu wissen, aufgeschluchzt hat wie ein Verbannter.
Was da in ihn gefahren sein mochte? Er weiß es nicht mehr. Oder hat er all das nur geträumt?