Aber essen muss man, hat seine Mutter immer gesagt.
Er nimmt eine Büchse aus dem Regal, Erbsensuppe, das dauert nicht lange. Und danach den Teller in die Geschirrspülmaschine. Das freut ihn noch immer. Geschirrspülmaschinen gab es früher im Osten nicht. Deutschland is beautiful.
Und dann, bevor es dunkel wird, noch kurz in den Garten. Vielleicht das Laub aus den Regenrinnen, solange man noch etwas sieht, und das Vordach abfegen. Gut, dass seine neue Leiter so lang ist.
Am Abend dann setzt er sich an seinen Schreibtisch, um sich Notizen zu machen.
Erst sitzt er eine Weile still da, und schließlich stehen auf dem Papier nur drei kurze Sätze:
Es gab eine Kindheit. Es gab einen Alltag. Es gab eine Jugend.
Und darunter in Klammern: Raschid = der Olympier = der Blitzeschleuderer.
Der Lichtkegel seiner Schreibtischlampe macht den Buchstaben eine Bühne, auch als Richard schon ins Bad gegangen ist, um sich die Zähne zu putzen.
19
Am nächsten Tag soll eigentlich Sprachunterricht sein, aber als er hinkommt, erfährt er vom Wachdienst, dass heute der Geldausgabe-Tag ist. Die sind alle raus, sagt ihm der Mann in der Phantasieuniform. Gut, dass Richard den Einkaufszettel dabei hat:
Geschirrspülmittel
1 Quark
1 Butter
Marmelade (Schwarze Johannisbeer? Himbeer?)
Schinken
Eisbergsalat
2 Gurken
Tomaten, mittelgroß
Mineralwasser
½ Mischbrot
Beim Einkaufen begegnet er Sylvia, der Frau seines Freundes, ja, er hat heute unverhofft nichts zu tun, unverhofft, so? Du schreibst sicher, musst Vorträge halten? Nicht direkt, sagt er, aber das sei eine längere Geschichte. Ob er vielleicht mit ihnen zusammen essen möchte, vom Geburtstag sei noch allerhand übrig, ja, warum eigentlich nicht, er bringt nur vorher den Einkauf nach Hause, gut, bis gleich dann, in Ordnung.
Woran arbeitest du denn gerade? fragt Detlef, während Richard sich noch die Schuhe abputzt. Bis vor fünf Jahren war Detlef als Innenarchitekt bei einer Firma angestellt, die Ladeneinrichtungen entwirft und baut, seitdem ist er im Vorruhestand. Nach dem Mauerfall war es sein Glück, dass er fließend Russisch sprach, denn so war er für die neuen Geschäftsleute in Moskau der Mann aus dem Westen, für seine westlichen Arbeitgeber aber der ehemalige Ostler, der mit den Russen zurechtkam. Sylvia, die, als sie in dieses Haus einzog, noch einen Pferdeschwanz trug und aussah wie ein Mädchen, war bis zum Mauerfall Typographin gewesen, danach hatte sie ihre Arbeit verloren, und einige Jahre später erwies sich, dass die Zeit nach dem Mauerfall für sie praktisch mit dem Beginn des Computerzeitalters zusammenfiel, denn wenig später waren all diese neuen Techniken auf den Markt gekommen, und von da an gab es den Beruf, wie sie ihn gelernt hatte, nur noch im Museum. Seit auch ihr Mann keine Arbeit mehr hat, sind beide von ihren Ersparnissen auf Reisen gegangen, haben Venedig gesehen, Marokko und Hamburg, haben die Pyramiden besichtigt, den Eiffelturm, Stonehenge und die kroatische Küste. Bis vor einem Jahr, als Sylvia krank wurde. Auf der Geburtstagsfeier seines Freundes hatte er sie zum ersten Mal sagen hören: Ich bin froh, dass ich von der Welt noch so viel gesehen habe. Bei dem noch hatte er unwillkürlich seinen Freund angesehen, und der Freund hatte gefragt: Willst du ein Bier?
Ach, hier im Altersheim sind Afrikaner untergebracht? Das wusste ich gar nicht.
Doch, ich hab schon manchmal welche beim Einkaufen gesehen und mich gewundert.
Apoll, Tristan und der Olympier bekommen nun ihren Platz in einem deutschen Wohnzimmer mit Couchecke, Fernseher, Obstschale und Bücherregal.
Während Richard von den Auseinandersetzungen der Tuareg mit Al-Qaida-Gruppen in der Wüste von Mali und Niger spricht, sieht er draußen im Garten ein Eichhörnchen laufen, während er erzählt, dass Tristans Vater die Rollos auf der Südseite seines Hauses in Tripoli erst am Abend wieder hinaufzog, fällt sein Blick auf die Fernsehzeitung für diese Woche, die auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa liegt. Als die Zahl auf der digitalen Uhr, die im Regal zwischen den Büchern steht, von 12.36 auf 12.37 springt, ist er gerade fertig mit der Geschichte von dem blauen Gewand, das Raschid, der Blitzeschleuderer, an Eid Mubarak trug und noch immer trug, als er floh.
Verstehe, hat sein Freund von Zeit zu Zeit gesagt, während er erzählte. Nun, da Richard mit seinem Bericht fertig ist, bleibt er eine Weile still und nickt nur.
Also arbeiten dürfen sie nur in Italien? fragt er schließlich.
Genau.
Wo es aber keine Arbeit gibt.
Genau.
Und das Geld, das sie hier bekommen?
Das wird nur ein paar Monate lang gezahlt — so lange, bis ein für allemal nachgewiesen ist, dass Deutschland nicht zuständig ist.
Und dann?
Dann werden sie nach Italien zurückgeschickt.
Wo es aber keine Arbeit gibt.
Genau.
Da geht es uns ganz schön gut hier, sagt Sylvia.
Richard denkt an seinen Vater, der als deutscher Soldat in Norwegen und Russland war, um Kriegswirren zu erzeugen. Detlef denkt an seine Mutter, die mit der gleichen Sorgfalt, mit der sie sich als deutsches Mädchen die Zöpfe flocht, dann später als Trümmerfrau Steine klopfte für den Wiederaufbau. Sylvia denkt an ihren Großvater, der seiner Frau für die eigenen Kinder blutige russische Kinderwäsche geschickt hatte: Die Flecken gehen leicht mit kaltem Wasser heraus. Das Verdienst ihrer Großväter und Väter, Großmütter und Mütter, war, wenn man so wollte, die Zerstörung gewesen. Die Schaffung einer leeren Fläche, die von Kindern und Enkeln neu beschrieben werden musste. Und der Verdienst ihrer eigenen Generation? Der Grund dafür, dass es ihnen jetzt um soviel besser geht als zum Beispiel diesen drei afrikanischen Männern, von denen Richard gerade erzählt hat? Nachkriegskinder sind auch sie, die da auf dem Sofa sitzen, deshalb wissen sie, dass die Aufeinanderfolge von Vorher und Nachher oft ganz anderen Gesetzen folgt als denen von Belohnung oder Strafe. Nicht direkt sind die Wirkungen, sondern indirekt, denkt Richard, wie er es in den letzten Jahren schon oft gedacht hat. Die Amerikaner hatten mit der einen Hälfte von Deutschland ihre Pläne gehabt — und die Russen mit der anderen Hälfte von Deutschland andere. Und weder der materielle Wohlstand auf der einen Seite noch die Planwirtschaft auf der anderen ließen sich durch irgendeine besondere Charaktereigenschaft der deutschen Bürger, die nur das Material der politischen Versuchsanordnung abgaben, erklären. Worauf also sollte man stolz sein? Was hätten sie das bessere Ihre nennen sollen — im Gegensatz zu dem, was irgendein schlechteres Andere war? Gearbeitet haben sie ihr ganzes Leben, das ist wohl wahr, aber ihnen hat das auch niemand verboten. Als Blutsverwandte sind sie, die aus dem Osten, schließlich von ihren Brüdern und Schwestern auf der wohlhabenderen Seite der Mauer in die Arme geschlossen worden, aber mit dem Blut waren sie schon geboren, und konnten weder etwas dafür noch dagegen. Die Schwiegertochter von Monika hat, wenn sie ihr Nachwende-Kind stillte, immer das Wunder bestaunt, dass ein Glas Coca Cola, das sie trank, sich in ihrem Körper in Milch verwandelte. Ob Blut, Coca Cola oder Milch in ihren Adern floss, konnte niemand so ganz genau wissen, und ebenso wüsste keiner von ihnen eine Antwort auf die Frage, wessen Verdienst es in Wahrheit war, dass selbst die Ärmeren aus ihrem Freundeskreis einen Geschirrspüler in ihren Küchen hatten, Weinflaschen im Regal und doppelt verglaste Fenster. Wenn es aber nicht ihr eigenes Verdienst war, dass es ihnen so gut ging, war es andererseits auch nicht die Schuld der Flüchtlinge, dass es denen so schlecht ging. Ebensogut könnte es umgekehrt sein. Einen Moment lang reißt dieser Gedanke sein Maul weit auf und zeigt seine grässlichen Zähne.