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Sylvia sagt: Ich stelle mir immer vor, dass auch wir noch einmal fliehen müssen, und dann wird uns auch niemand helfen.

Detlef sagt: Rein nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit.

Sylvia sagt: Und wohin überhaupt?

Richard sagt: Ich hab schon mal überlegt, mein altes Motorrad auf die andere Seite vom See zu stellen. Wenn es dann soweit ist, hinüberrudern, aufs Motorrad steigen und ab nach Osten. Dahin will bestimmt keiner. Da ist dann noch Frieden.

Apropos, sagt Sylvia, der Mann ist noch immer unten im See, oder?

Ja, er ist immer noch unten.

Vor dem Fenster steht auf der Terrasse ein Aschenbecher im Kalten, der ist schon verrostet. Seit der Diagnose vor einem Dreivierteljahr hat Sylvia aufgehört mit dem Rauchen.

Detlef steht auf und sagt: Ich bring uns mal ein paar Sachen zu essen. Wir haben noch von der Entenbrust. Und auch Suppe.

20

Die Mischbatterien darf man nicht mit einem Mikrofasertuch putzen, sagt der Klempner, das zerstört den Metallüberzug, der so aussieht wie Chrom. Gut. Die Spülung war auch nicht ganz in Ordnung. Freitag nach eins macht jeder seins, es ist Freitag, nach eins, der Mann packt gerade sein Werkzeug zusammen, dann noch hier unterschreiben.

Als Richard ins Altersheim kommt, erfährt er: Da haben Sie heute wohl Pech, freitags gehen die Schwarzis immer nachmittags beten.

Ist gar keiner da?

Doch, die paar Christen.

Dann versuche ich’s einfach mal, sagt Richard. In 2017 öffnet auf sein Klopfen hin niemand, aber in 2019 macht ihm ein junger Mann, der verschlafen aussieht, die Tür auf. Ein paar weiche Barthaare sprießen ihm aus den Wangen. Er muss einer von denen sein, die während Richards erstem Besuch bei Apoll auf den beiden anderen Betten lagen und schliefen.

Richard erklärt noch einmal, wer er ist und was er vorhat, und der junge Mann sagt: Okay.

Würden Sie also vielleicht mit mir sprechen?

Der junge Mann zuckt mit den Schultern.

Verstehen Sie Englisch?

Yes, sagt er, macht aber keine Anstalten, Richard eintreten zu lassen. Vielleicht hat er Angst, mit Richard allein in einem Zimmer zu sein?

Richard sagt: Wollen wir hinausgehen, in ein Café?

Der junge Mann zuckt wieder nur mit den Schultern.

Es gibt so viel Unsicherheit auf beiden Seiten, denkt Richard, auf seiner eigenen und wahrscheinlich auch auf der Seite des Flüchtlings. Aber gerade als Richard sich entschuldigen und wieder fortgehen will, macht der Junge doch einen Schritt nach vorn, nickt Richard zu, schließt die Tür hinter sich, und folgt ihm — einfach so, wie er ist: ohne sich die Haare zu kämmen, ohne irgendeine Tasche zu nehmen, und in einer Jacke, die viel zu dünn ist.

Es ist Richard nicht unrecht, das Haus einmal zu verlassen, um ein Gespräch zu führen. Die Zimmer, die er bis jetzt kennengelernt hat, sind ja schon bis zum Rand von Gespenstern bewohnt. Nebenan, in Zimmer 2020, weiß er, hängt zwar ein Vorhang, blaukariert und gebügelt, noch vor dem Fenster, aber all der übrige Hausrat wird gerade von marodierenden Truppen zerschlagen, das Bett geht zu Bruch und der Schrank wird umgekippt, auf den Anziehsachen trampeln welche herum, das Geschirr wirft irgendwer gegen die Wand, allein dieser blaukarierte Vorhang, für eine 102-jährige deutsche Rentnerin vom Enkel montiert, ist nach wie vor heil und gebügelt, und wirft an einem sonnigen Herbsttag in ein Zimmer vor den Toren Berlins seinen Schatten. In Zimmer 2017 warten Geister filetierter Fische auf Futter, aber noch sind alle 800 Passagiere am Leben, und unten beim Ausgang, im Abstellraum, an dessen Tür Richard und der Junge in der dünnen Jacke eben vorbeigehen, türmen sich gelb- und rotgepolsterte, hölzerne und eiserne Stühle für die große Familie, die sich gleich zum großen Fest, Eid Mubarak, versammeln wird, 5 Frauen, 24 Töchter und Söhne, darunter Raschid. Und Raschids Vater.

Kein Problem, mit dem jungen Mann rauszugehen, sagt der Uniformierte, wenn der sich hier in der Liste austrägt.

In so einem Vorort von Berlin gibt es nicht viele Cafés. Ein Bäckerladen hat expandiert, hat bald nach der Wiedervereinigung beider Deutschlands einen Glasvorbau errichtet und verkauft seine Himbeertorten, Liebesknochen und Sahnebaisers nun hinter einer Theke, die 8,50 Meter lang ist. Die älteren Herrschaften, die für 16 Uhr hier miteinander verabredet sind, liegen jetzt noch zu Hause unter ihren Kamelhaardecken und absolvieren den Mittagschlaf. Nur ein einziger Gast sitzt in der Nähe der Theke vor einer Tasse Kaffee und liest Zeitung. Richard setzt sich mit seinem jungen Gesprächspartner möglichst weit weg von dem, an einen Tisch ganz am Rand des gläsernen Raums, mit Blick nach draußen.

Was möchtest du trinken? Kaffee? Tee? Kakao? Saft oder Wasser?

Der Junge schüttelt den Kopf.

Möchtest du Kuchen?

Der Junge schüttelt den Kopf.

Einen Tee?

Der Junge zuckt mit den Schultern.

Kräutertee, Früchtetee, grünen Tee, schwarzen Tee?

Nichts.

Grün? Schwarz?

Der Junge zuckt mit den Schultern: Dann schwarz.

Und Kuchen?

Der Junge schüttelt den Kopf.

Richard bestellt bei der Theke also einen schwarzen Tee und einen Cappuccino. Cappuccino hat er zu DDR-Zeiten nie getrunken, aber in den letzten Jahren hat er es sich in Italien angewöhnt. Dass es in seinem Leben je irgend etwas geben würde, das er sich in Italien angewöhnt, hätte er in den vierzig Jahren davor nicht für möglich gehalten.

Wie heißt du?

Osarobo.

Aha.

Und schon wird der schwarze Tee gebracht und der Cappuccino mit Milchschaum, darübergestreut ein Hauch von Kakao, auf der Untertasse ein Keks.

Woher bist du?

Aus Niger. Später war ich bei meinem Vater in Libyen.

Zucker in den Kaffee, der rutscht durch den Milchschaum hindurch in die Tiefe.

Hast du noch Familie in Niger?

Eine Mutter und eine Schwester.

Wie alt ist deine Schwester?

Vierzehn oder so.

Umrühren.

Und wie heißt sie?

Sabinah.

Rufst du dort manchmal an?

Nein.

Und dein Vater?

Kopfschütteln.

Sprichst du mit deinen Freunden vom Oranienplatz über den Krieg?

Manchmal.

Gibt es unter denen einen, den du noch von früher kennst — von Libyen?

Nein. Ich habe alle meine Freunde verloren.

Leise Hintergrundmusik, eine Frau kauft Kuchen, das macht 11,60 Euro.

Ich hab gesehen, wie sie gestorben sind. Viele, viele sind gestorben.

Die Frau verlässt den Laden wieder mit ihrem Kuchenpaket, vor ihr öffnet sich die gläserne Schiebetür automatisch.

Osarobos Tee steht da, unangerührt, und Richards Cappuccino steht auch da, unangerührt.

Life is crazy, life is crazy, life is crazy.

Richard wüsste gern, welche Fragen ins Land der schönen Antworten führen.

Gehst du manchmal spazieren? Walk, fragt Richard, aber Osarobo missversteht die Frage, versteht stattdessen work: arbeiten.

Ja, ich will arbeiten. Ich will arbeiten, aber es ist nicht erlaubt.

Richard denkt daran, wie Mozarts Tamino geprüft wird, und ihn bei jeder Tür, die er öffnen will, eine Stimme vom Weitergehen abhält: Zurück!

Welche Sprache ist deine Muttersprache?

Hausa, und Tebu-Tebu.

Was heißt Hand auf Hausa? Hanu.

Und Auge? Idu.

Tee? Shayi.

Ich? Ni.

Du? Kay.

Wo warst du in Italien?

In Neapel, in Mailand. In der Metro, sagt er, stehen die Leute auf und setzen sich anderswohin, wenn sich ein Schwarzer neben sie setzt.

Auch Italien ist längst schon nicht mehr das Land der schönen Antworten.