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Tja, sagt der Junge, und zupft an der Haut auf seinem Handrücken, als wollte er sich diese lästige Hülle abziehen. Dann schaut er aus dem Fenster nach draußen, auf die Bäume, an denen noch ein paar gelbe Blätter hängen. Sein linkes Auge ist irgendwie nicht ganz in Ordnung, das sieht Richard erst jetzt, weil der Junge vorher nie aufgeschaut hat.

Was ist mit deinem Auge?

Kopfschütteln. Kein Wort. Schaut wieder nach unten.

Wie alt bist du?

Achtzehn.

Und seit wieviel Jahren in Europa unterwegs?

Seit drei Jahren.

Denkst du manchmal an deine Zukunft?

Zukunft?

Bis jetzt hat der Junge noch keinen einzigen Schluck von seinem Tee getrunken.

Crazy life, crazy life, crazy life, sagt er und verstummt.

Der Milchschaum ist schon lange erkennbar als etwas vollkommen Falsches.

Ich will wieder zu meinen Freunden zurück.

Richard weiß nicht, ob Osarobo seine Freunde im Altersheim meint oder die Toten. Richard scheitert an diesem Jungen. Aber es geht nicht darum, dass er scheitert. Es geht überhaupt nicht um ihn.

Das macht 4,70 Euro, sagt die Frau und schaut stumm auf den Tisch hinunter, auf dem stehen noch vollkommen unangerührt die zwei Getränke.

Bis zur Kreuzung, an der Richard zu seinem Haus abbiegen muss, geht der Junge wortlos neben ihm her, erst als Richard stehenbleibt, um sich zu verabschieden, fragt er plötzlich:

Glaubst du an Gott? und sieht Richard zum ersten Mal an.

Bei der Kreuzung schaltet die Ampel auf Rot, und deswegen wird es jetzt ganz still auf der Straße. Richard sagt: Eigentlich nein. Und das eigentlich ist schon ein Kompromiss.

Ich verstehe das nicht, wie jemand nicht an Gott glauben kann, sagt der Junge. Wenn du in Not bist, glaubst du an Gott. Life is crazy. Wenn ich krank bin, dann macht mich nicht das Krankenhaus gesund, sondern Gott. Gott hat mich gerettet, sagt er, mich hat er gerettet, aber die anderen nicht. Also muss er doch irgend etwas mit mir vorhaben, oder?

Noch immer schaut er Richard an, mit einem gesunden Auge, und einem Auge, mit dem irgend etwas nicht stimmt, aber als Richard ihm keine Antwort gibt, sinkt er wieder in sich zusammen, viel zu dünn ist seine Jacke für einen deutschen Oktober, verliert sich sein Blick wieder in dem unsichtbaren Gestrüpp, mit dem für ihn die Luft gefüllt ist.

Richard hat vor dreißig Jahren bei seiner Fahrprüfung einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Die Herzdruckmassage war viel anstrengender gewesen, als er sich das vorgestellt hatte.

Gibt es nicht irgend etwas, das du gern machen würdest, wenn du Gelegenheit dazu hättest? fragt er den Jungen, so als hinge für ihn selbst etwas davon ab, dass er den wieder ins Leben zurückholt, als verlöre er selbst irgend etwas, wenn dieser Junge aus Niger, den er kaum kennt, sich aufgibt. Gern machen würdest, wenn du die Wahl hättest? fragt er noch einmal, denn schon mit dem Wünschen allein hätte er ihn ja schon ins Leben zurückgekauft. Jemanden dazu bringen, atmen zu wollen. Der Rest würde sich finden.

Ja, sagt Osarobo.

Was denn? fragt Richard.

Klavierspielen, sagt der Junge.

Die Ampel schaltet wieder auf Grün.

Klavierspielen? Richard glaubt zuerst, dass er sich verhört hat, aber Osarobo sagt wirklich:

Ja. Klavier.

Dann muss Richard doch nur erklären, dass ein Klavier bei ihm zu Hause steht, dass man, um darauf zu spielen, nein, keinen Eintritt bezahlen muss, dass Osarobo, wenn er will, jederzeit zu ihm kommen kann. Am Montag vielleicht? Oder am Dienstag? Am Mittwoch.

21

Am Sonnabend kommt ihn sein Freund Peter, der Archäologe, besuchen, für die Grabungen sei es zum Glück immer noch warm genug, sagt er.

Am Sonntag gibt es zum Frühstück ein Ei. Längst schon hat Richard sich vorgenommen, dieses Papier zu studieren, Vereinbarung genannt, das der Senat mit den Afrikanern gemacht hat, um den Oranienplatz wieder freizubekommen für die Berliner. Einen ganzen Tag hat er dafür eingeplant, aber dann ist das Dokument zu seiner größten Überraschung nicht länger als eine dreiviertel Seite. Selbst seine Telefonverträge sind länger, und ganze zwei Ordner in seinem Regal sind gefüllt mit dem Schriftwechsel über den Erwerb seines Hauses. Wenn in Deutschland ein Schriftstück so kurz ist, erscheint ihm das, gelinde gesagt, höchst erstaunlich. Wir sind uns darüber einig, dass die Bedingungen für schutzsuchende Flüchtlinge in Europa und Deutschland verbessert werden müssen. So lautet der erste Satz dieses als Einigungspapier bezeichneten Dokuments. Hier wollen sich also zwei einigen, die gleich am Anfang bekunden, dass sie sich einig sind. Manchmal schon hat er gedacht, dass er, wenn er einen Text untersucht, kaum anderes macht, als nach Indizien zu suchen. Wer zum Beispiel ist überhaupt wir?

Das Campieren und damit die im Widerspruch zur genehmigungsfähigen rechtlichen Situation stehende Form des Protests wird auf Dauer beendet. Die Flüchtlinge organisieren selbstständig den Abbau aller Zelte bzw. Unterkünfte und wirken darauf hin, diesen Zustand dauerhaft zu erhalten.

Die genehmigungsfähige rechtliche Situation gefällt ihm besonders. Ob das Verhältnis zu seiner Geliebten eine ehefähige Beziehung hätte genannt werden können? Und hätte allein diese Bezeichnung seiner Geliebten, die jede Woche mindestens einmal darüber weinte, dass er zum Abendbrot wieder zu seiner Frau zurückfuhr, vielleicht schon Genugtuung verschafft? Oder stand eben das Weinen im Widerspruch zu ihrer Ehefähigkeit?

Außerdem aber hat sich die Rede von der Dauerhaftigkeit des Rückzugs zweimal in diesen Abschnitt geschlichen, Sprache ist niemals Zufall, das hat er seinen Studenten immer begreiflich zu machen versucht. Er selbst hat das Tag für Tag neu beim Studium des Neuen Deutschlands, des sogenannten Zentralorgans der Partei gelernt. Die Bezeichnung Zentralorgan selbst war schon Anlass genug, um zu zweifeln. Den eigenen Protest also sollten die Flüchtlinge selbst zu Kleinholz zerlegen, vor aller Augen. Und was gab es dafür? Richard selbst weiß noch gut, wie er in der ersten Zeit nach der Währungsunion Tag für Tag Briefe bekam: Sie haben gewonnen! Einen Mercedes! 500 Millionen! Eine Villa! Die kleine Papierschablone mit dem goldenen Schriftzug Villa Richard hängt zur Erinnerung an den Verlust seiner sozialistischen Unschuld noch immer bei ihm über dem Schreibtisch.

Die Senatorin unterstützt im Rahmen ihrer politischen Verantwortlichkeit. Es erfolgt eine Prüfung der Einzelfallverfahren im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten. Abschiebung für die Zeit der Prüfung ausgesetzt.

Ein Rahmen, das versteht sich von selbst, ist auch nichts anderes als eine Grenze. Und eine Zeit der Prüfung ist, mal früher, mal später, vorüber. Ewigkeit wird hier also gegen Zeit eingetauscht. Eine wirkliche Räumung eines wirklichen Ortes auf Dauer gegen den schwimmenden Begriff einer Hoffnung: Unterstützung und Begleitung bei der Entwicklung der beruflichen Perspektiven. So fremd ihm die Welt der Rechtsanwälte auch ist, fühlt er sich ihnen im Besessensein davon, Sachverhalte mit der Sprache immer genauer zu fassen, manchmal verwandt. Der Text teilt also jenseits des Inhalts der einzelnen Sätze noch etwas anderes mit: Die Flüchtlinge konnten sich keinen Anwalt leisten und verstehen kaum Deutsch. Die Hoffnung ist das, was sie am Leben hält, und Hoffnung ist billig.

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Und dann gibt es am Montag wieder Sprachunterricht.

Richard trägt sein hellblaues Hemd.

Die Lehrerin stellt jeweils zwei Männer hintereinander, nebeneinander, voreinander und übt den Dativ.