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Wem gehört die Sonne?

Die Sonne gehört Gott! antwortet einer.

Die Sonne gehört uns! ein anderer.

Wem gehört Ali?

Ali gehört sich selbst.

Die Lehrerin lacht, begrüßt den oder jenen, der zu spät kommt, schreibt an die Tafel, blickt dem einen oder dem anderen beim Schreiben über die Schulter, wie eine geübte Dompteuse bewegt sie sich zwischen all diesen Männern, und nach zwei Stunden, die wie im Flug vergehen, ist der Unterricht aus.

Wenn Sie wollen, können Sie die Fortgeschrittenen unterrichten, Sie sehen ja, das Niveau ist sehr unterschiedlich.

Und das neue Rasierwasser hat er heute genommen.

Ich überlegs mir.

Und schon hat sie wieder Auf Wiedersehen gesagt und ist fort.

Am Dienstag geht Richard den Flur, an dessen Ende auf einem Fensterbrett wie immer drei Paar Schuhe säuberlich nebeneinander aufgereiht stehen, wieder einmal bis zum Zimmer 2017 und klopft, diesmal macht ihm Zair die Tür auf. Auf den Liegen schlafen die andern, der Fernseher läuft nicht.

Weißt du, wo Raschid ist, flüstert Richard.

Zair zeigt hinter sich in den Raum auf eine der Liegen, auf der der Hügel unter der Decke etwas höher ist als bei den andern.

Also kann selbst der gewaltige Raschid, den Richard aufgrund des Auftritts im Treppenhaus inzwischen bei sich nur noch den Blitzeschleuderer nennt, dieser mächtige Mann, der, in ein blaues Festgewand gekleidet, die fünf Säulen des Islam allein auf seinen Schultern trägt, einfach so wieder zurückfallen unter die Schläfer.

Richard dankt und schüttelt den Kopf, als Zair ihn hineinbitten will.

Jetzt geht eine andere Tür auf, ein halbnackter Mann, barfuß, nur mit einer Unterhose bekleidet, ein Handtuch um die Schultern, kommt aus einem der Zimmer, schlendert an ihm vorbei, nickt ihm zu und geht in Richtung Treppenhaus weiter, wahrscheinlich sind da die Duschen. Dann ist es wieder sehr still. Aber irgendwelche Geräusche kommen von weiter hinten. Richard geht den Flur hinunter, biegt hinten rechts um die Ecke, und findet sich vor einer Küche. Zu seiner Freude und Überraschung steht da die junge Deutschlehrerin ganz allein auf einer Leiter und versucht, über einem der drei Herde ein Plakat aufzuhängen: Das nächtliche Schloss Bellevue, angestrahlt und symmetrisch. Einen Herd weiter hängt schon ein Poster, auf dem sind Bierflasche, Zigarette und Tabletten durchgestrichen zu sehen und darüber steht: Sei wie ein Vogel!

Kann ich Ihnen irgendwie helfen? fragt Richard.

Sie können mir die Reißzwecken reichen.

Warum machen Sie das? fragt er, während er aus der Schachtel mit Reißzwecken diejenigen heraussucht, die dunkelblau und grün sind, so wie die Nacht rings um das Schloss Bellevue, in dem der deutsche Bundespräsident residiert. Ob die Lehrerin wohl bei einem der Männer übernachtet hat, dass sie hier so früh unterwegs ist? Vielleicht bei dem, den Richard gerade halbnackt aus dem Zimmer hat kommen sehen?

Selbst Fische in einem Aquarium haben doch wenigstens ihr Hintergrundbild mit Korallen und Algen, sagt sie. Und die Menschen hier sollten es schlechter haben als so ein paar Fische?

Richard fällt der Blumenstrauß ein, den er letzte Woche gekauft hat und der schon verwelkt ist, weil er vergessen hat, ihm frisches Wasser zu geben. Manchmal ertappt er sich dabei, wie er den Erbseneintopf kalt aus der Büchse löffelt. Und auf seinem Wohnzimmertisch steht seit fünf Jahren der Adventskranz, mit den heruntergebrannten Stümpfen der roten Kerzen vom letzten Weihnachtsfest mit seiner Frau. Nun ist ja bald wieder Adventszeit.

Könnten Sie mir das dritte da geben?

Richard reicht ihr die Rolle hinauf, sie streift sie an der Wand glatt. Da, wo sie gerade nicht festhält, rollt das Plakat sich gleich wieder zusammen. Streift sie links, sieht er die linke Hälfte des Bode-Museums, streift sie rechts, sieht er die rechte.

Von seiner Frau war Richard immer pünktlich in den Keller geschickt worden, erst, um die Kartons mit der jeweils notwendigen Dekoration für irgendein Fest heraufzuholen, und nach dem Fest dann, um all die Requisiten, die abgespielt hatten, wieder hinunterzubringen: Osterhasen, gläserne und hölzerne Eier, künstliches Gras, Adventssterne, Nussknacker, Engel, Lichterketten, Weihnachtsbaumschmuck, Wunderkerzen, Silvesterknaller, und zum Fasching dann bunte Schlangen und die große, niemals ganz leer werdende Büchse mit Konfetti. Nach ihrem Tod hatte er das Weihnachtszeug zum ersten und einzigen Mal selbständig eingepackt und in den Keller hinuntergebracht, aber den Adventskranz dabei vergessen. Seitdem steht der nun da auf dem Wohnzimmertisch.

Ist es so gut?

Vielleicht noch ein bisschen nach links.

So?

Und zwei Zentimeter höher.

Nach dem Tod seiner Frau war Richard zunächst erleichtert gewesen, dass der Jahreszyklus ihn nun nichts mehr anging, so ein Fest war vorbei, ehe er auch nur daran gedacht hatte, dass es bevorstand. Erst seit kurzem, da die ungeformte Zeit inzwischen lang genug dauert, um ihrer überdrüssig zu werden, hat er manchmal, wenn er im Keller war, auf diesen Kartons den Namen des jeweiligen Festes in der Handschrift seiner Frau gelesen und sich einen Moment lang vorzustellen versucht, wie da im Dunkel all die seltsamen Wesen und Dinge einzig nach Maßgabe von Platzersparnis und Fragilität, ansonsten aber wahllos, miteinander einsortiert sind.

Wissen Sie vielleicht, wann die Männer nun umziehen müssen?

Weiß und hellblau ist der Himmel über dem Bode-Museum, grün und schwarz das Wasser rings um das Fundament.

So bald jedenfalls nicht, es hat zwei neue Windpockenfälle gegeben, murmelt die schöne Äthiopierin, denn während sie die ersten Reißzwecken befestigt, hält sie die anderen zwischen die Lippen gesteckt.

Absurd ist allerdings, sagt sie, als sie fertig ist und von der Leiter herabsteigt, dass den Männern nur die Hälfte des versprochenen Geldes ausgezahlt wurde, den Rest bekommen sie erst im neuen Quartier, hat mir gestern einer erzählt. Als seien Bakterien bestechlich.

Ja, das ist wirklich absurd, sagt er. Ihm fallen wieder die Kartoffelkäfer ein und sein Einweckglas, das bis zur Hälfte mit Essig gefüllt war.

Ich muss los, sagt sie, eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein, die Betreuer haben mir Hausverbot erteilt, aber so früh kommen sie nicht kontrollieren.

Hausverbot? Aber Sie unterrichten doch zweimal die Woche.

In den Unterrichtssaal darf ich noch kommen, aber nicht hier hinauf zu den Zimmern. Es heißt, ich brächte zuviel Unruhe ins Haus.

Er kann sich schon vorstellen, was die Betreuer mit Unruhe meinen, sagt aber trotzdem:

Das ist ja unglaublich.

Und ist gleichzeitig froh, dass sie die Nacht also nicht mit dem halbnackten Mann verbracht hat.

Vielleicht denken Sie noch über das nach, was ich Sie gestern gefragt habe — den Unterricht für die Fortgeschrittenen-Gruppe?

Aber ja, sagt er, da ist sie mit ihrem Auf Wiedersehen schon draußen, er hört ihre entschiedenen Schritte sich den langen Flur hinunter entfernen, schnell ist sie fort, so wie immer.

Ob irgendeiner von den Männern hier je im Bode-Museum war?

23

Als Richard abends zu Hause ankommt, weiß er nicht mehr, wie das Gespräch eigentlich begonnen hat. Er hatte nicht mehr bei einer der Türen anklopfen wollen, hinter denen die Schlafenden waren. Beim Hinuntergehen dann sah er den dünnen Mann mit dem Besen. Der fegte, als habe er alle Zeit dieser Welt, die unbewohnte erste Etage. Das Gespräch mit ihm hat viel länger gedauert als all die anderen Gespräche, aber das kann Richard sich nicht wirklich erklären.

Ich weiß, woran das liegt, sagt die Stimme. Der dünne Mann trägt noch immer die gelbe, zerlöcherte Trainingshose und hat den Besen noch immer in der Hand. Manchmal macht er eine kleine Pause und stützt sich mit beiden Händen darauf, und dann fegt er weiter.