Es ist so, viele Menschen in Ghana sind sehr verzweifelt.
Manche hängen sich auf.
Andere nehmen DDT, sie trinken Wasser nach, dann gehen sie ins Haus, machen die Tür hinter sich zu — und sterben.
Ich schickte ein Kind zu dem Laden, wo es das DDT gibt. Aber der Verkäufer fragte das Kind, wer es geschickt hat. Er suchte mich, dann sprach er lange mit mir und sagte, ich soll es mir gut überlegen.
Drei Tage saß ich nach diesem Gespräch in der Moschee und dachte nach.
Ich hatte dann keine Kraft mehr, es zu tun.
Danach wurde ich krank.
Richard steht auf und geht in die Bibliothek hinüber. Dort sitzt er manchmal im Ohrensessel, wenn er telefoniert. Vielleicht braucht er noch irgendein Buch, um vor dem Einschlafen auf andere Gedanken zu kommen.
Hätte der Verkäufer von dem DDT damals nicht mit mir gesprochen, wäre ich schon lange tot.
Sicher, auch in der Bibliothek ist es staubig. Richard schaut dem dünnen Mann eine Weile dabei zu, wie er die Stühle, die um den runden Tisch herum stehen, umdreht und auf die Tischplatte hebt. Den Besen hat er solange ans Regal angelehnt, auf Höhe der deutschen Klassik.
Dann ging ich nach Accra zurück. Ich stellte einen Helfer ein. Irgendwann hatte ich insgesamt zweieinhalb Säcke mit Schuhen, beinahe 300 Paar. Für ein Zimmer hätte mein Geld jetzt bald gereicht.
Aber da wurde der Straßenhandel verboten.
Ich schaute nach vorn und nach hinten und sah nichts.
Jeweils 5 Paar Schuhe trug ich mit mir herum und verkaufte sie heimlich. Ganze Tage lief ich quer durch die Stadt. Die letzten 20 oder 30 Paare gab ich billig an meinen Helfer ab.
Von dem Erlös kaufte ich einen Sack Athfiadai, daraus machen sie hier in Europa Medizin, hat mir jemand gesagt. Paracetamol.
Richard nimmt gegen Kopfschmerzen ASS, das ist die Aspirin-Variante für die aus dem Osten, aber er weiß nicht, ob darin derselbe Wirkstoff enthalten ist wie in Paracetamol.
Dann fuhr ich nach Hause zu meiner Mutter und meinen Geschwistern. Ich blieb nur eine Nacht, weil das Zimmer zu klein war, und erklärte ihnen, was sie machen sollten, um mir zu helfen.
Sie gingen alle vier in den Busch, um die Frucht zu sammeln. Sie sieht aus wie ein kleiner Apfel, man trocknet sie, dann platzt sie auf, man sammelt die Kerne heraus, auch die Kerne werden dann zwei, drei Tage an der Sonne getrocknet und im Mörser zermahlen. Am Ende ist es ein schwarzes Pulver. Die Frucht ist selten, und es macht viel Arbeit, bis man das Pulver hat, aber schließlich war ein zweiter Sack voll, den schickte mir meine Mutter nach Accra.
Richard würde gern das Licht löschen und zu Bett gehen. Aber dann wartet er doch noch so lange, wie der Dünne unter dem Sofa fegt und unter dem Sekretär, so lange, bis er die Stühle wieder vom Tisch nimmt und alles ordentlich hinstellt.
Ich ging auf den Markt mit den zwei Säcken.
Am ersten Tag kam niemand, um das Pulver zu kaufen.
Auch nicht am zweiten.
Und auch nicht am dritten.
Erst dann hörte ich, dass im Vorjahr einige Händler ähnlich aussehendes Pulver in die Säcke gefüllt hatten, um die Aufkäufer zu betrügen.
Jetzt macht Richard das Licht aus. Die Stimme erwartet ihn schon im Flur.
Ich ließ die Säcke bei einem Freund und fuhr zu meiner Mutter und meinen Geschwistern, um Abschied zu nehmen. Eine Nacht konnte ich bleiben, nicht länger, weil das Zimmer zu klein war.
Von dem letzten Geld, das ich hatte, gab ich meiner Mutter die Hälfte, von der anderen bezahlte ich den Schlepper für meine Fahrt nach Libyen.
Das war im Jahr 2010.
Eigentlich schön, dass es keinen Lärm macht, das Fegen, denkt Richard und fragt sich, warum er selbst, wenn überhaupt, immer gleich zum Staubsauger greift.
Mein Geld reichte nur bis Dakoro in Niger. Den Rest lieh mir der Schlepper. Ich und die andern lagen im doppelten Boden eines Pickups so eng aneinander und so flach, dass wir uns nicht einmal umdrehen konnten. Mit Stücken von Wassermelonen hielt uns der Schlepper am Leben, die schob er uns ins Versteck.
In Tripoli arbeitete ich die ersten acht Monate auf einer Baustelle nur für den Schlepper. Als meine Schuld endlich abbezahlt war, brach der Krieg aus. Wir konnten die Baustelle nicht mehr verlassen. Ringsum hörte man Schüsse. Irgendwann kam der Mann nicht mehr, der uns bis dahin mit Essen und Trinken versorgt hatte. Drei Tage hielten wir aus, dann mussten wir rausgehen. Die Straßen waren vollkommen leer. Man sah keinen Ausländer mehr, aber auch keinen Libyer. Überhaupt keine Menschen. Schließlich schafften wir es nachts auf ein Boot. Ein Freund lieh mir die 200 Euro für die Überfahrt nach Europa.
Als ich vom Lager in Sizilien aus in Accra anrief, sagte mir der Mann, bei dem ich die zwei Säcke mit dem Pulver stehengelassen hatte, das Zeug sei nun doch schon alt.
Ja, sagte ich, schütt es weg.
Und jetzt beginnt der Dünne, die Treppe aufwärts zu fegen, anders, als Richard es bei seiner Mutter gesehen hat, fegt er Stufe für Stufe von unten nach oben, so dass der Staub von der nächsthöheren Stufe auf die gerade gesäuberte fällt.
So lange, wie ich in Italien im Camp war, bekam ich 75 Euro im Monat, 20 oder 30 davon schickte ich meiner Mutter.
Aber nach einem Jahr wurde das Camp geschlossen. Sie gaben uns 500 Euro. Damit stand ich nun auf der Straße. Ich ging auf den Bahnhof, um dort zu schlafen. Ein Polizist weckte mich und schickte mich raus, weil ich keine Fahrkarte hatte.
Draußen war einer aus Kamerun. Der sagte, er hat einen Bruder in Finnland. Wir riefen den Bruder an. Ja, ich kann nach Finnland kommen und bei ihm wohnen.
Ich fuhr nach Finnland. Aber der Bruder von dem aus Kamerun hob das Telefon nicht mehr ab.
Zwei Wochen schlief ich in Finnland auf der Straße.
Es war sehr, sehr kalt.
Dann fuhr ich zurück nach Italien.
Ich ging mit meiner Tasche auf dem Rücken umher. Ein Paar Schuhe und eine Hose warf ich irgendwann weg, weil die Tasche so schwer war.
Ein Jahr und acht Monate war ich insgesamt in Italien.
Dann fuhr ich nach Deutschland.
Dann war mein ganzes Geld weg, die 500 Euro.
Ich schaute nach vorn und nach hinten und sah nichts.
Der Dünne ist mit dem Besen nun oben und scheint in Richtung Gästezimmer zu gehen, aber als Richard ihm nachgeht, einen Band von Edgar Lee Masters in der Hand, und sich in der oberen Etage umschaut, ist niemand mehr da.
24
Um elf Uhr am Mittwoch würde er ihn zum Klavierspielen abholen kommen, hat Richard letzten Freitag mit Osarobo vereinbart. Aber als er bei Zimmer 2019 anklopft, dauert es lange, bis die Tür endlich aufgeht. Osarobo steht da, ungekämmt und verschlafen und sagt: How are you? Als Richard ihn fragt, was denn mit dem Klavierspielen sei, sagt er: Oh sorry, I have forgot.
Richard sagt: Ich warte unten.
Er ärgert sich, aber worüber eigentlich? Dass der Afrikaner nicht so glücklich und dankbar ist, wie er es von ihm erwartet? Dass der Afrikaner ihn, den einzigen Deutschen von draußen, der, wie es scheint, jemals dieses Heim hier freiwillig betritt, einfach vergisst? Vielleicht auch darüber, dass der Afrikaner nicht verzweifelt genug ist, um seine Chance zu erkennen? Oder eher darüber, dass er ihm, Richard, durch seine Achtlosigkeit beiläufig klarmacht, dass das Angebot mit dem Klavierspielen keine Chance darstellt, sondern allenfalls einen geringfügig besseren Zeitvertreib als das Schlafen? Damals, in den Diskussionen, die der Trennung seiner Geliebten von ihm vorausgegangen waren, hatte sie mehrmals gesagt, nicht das Ausbleiben dessen, was er erwarte, sei das Problem, sondern seine Erwartung.
Eine Etage tiefer fegt heute niemand.
Von seiner Geliebten hatte er sich zum Beispiel gewünscht, dass sie ihn an dem und dem Tag um 17 Uhr anrufen, oder ihn beim nächsten Treffen im blauen Minirock erwarten sollte, der ihm so gefiel, oder ihm, wenn sie von irgendwoher zurückkam, sagen sollte, aus welchem Abteil des Zuges sie aussteigen würde. Die Vorfreude fing mit dem Tag der Vereinbarung an — und dauerte dadurch viel länger als das, worum es eigentlich ging. Beinahe ersetzte sie so die Sache, um die es ging, aber dennoch stand sie natürlich in einem unauflöslichen Verhältnis zu dem Stück Wirklichkeit, auf das sie sich bezog, und löschte, wenn sie enttäuscht wurde, noch die ganze vergangene Zeit, die ihr gehört hatte, nachträglich aus. Fluchtpunkte, hatte seine Freundin das, worauf er sich freute, anfangs im Scherz genannt, später dann: Terror des Happy Ends, und ihn in der letzten Zeit ihrer Beziehung ihrerseits damit terrorisiert, sich Abweichungen von dem, was ausgemacht war, zu erlauben.