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Richard nickt den Billardspielern zu, an denen er eben schon, auf dem Weg nach oben, vorbeigekommen ist. Einer macht mit zwei Fingern das Victory-Zeichen.

Hatte ihn achteinhalb Minuten später angerufen oder auch überhaupt nicht, hatte den blauen Rock ihrer Schwester geschenkt und war, wenn er sie in ihrem Stammcafé erwartete, nicht mehr quer über den Platz von der U-Bahn gekommen, so dass er sie schon von ferne an ihrem aufrechten Gang hätte erkennen können, sondern bog unverhofft von der anderen Seite her mit dem Fahrrad um die Ecke, stieg ab, schloss es an einem Laternenmast fest und setzte sich dann, verschwitzt und mit schmutzigen Händen, zu ihm an den Tisch.

Der Mann in der Phantasieuniform sagt: Na, wieder keiner zu sprechen?

Doch, doch, sagt Richard, aber ich warte draußen.

Der zweite hält ihm die Tür auf.

Nur an der Oberfläche war es damals die Frage gewesen, ob die Versäumnisse seiner Geliebten ihre Ursache vielleicht einfach in einer anderen Ordnung hatten, einem anderen System als dem, auf das er sich bezog — also etwa in einer neuen, ihm verheimlichten Liebesbeziehung oder auch nur in einer anderen Kleidergröße oder dem erst kürzlich im Stadtzentrum installierten Radweg. Im Grunde aber, wenn auch unausgesprochen, hatte seine Geliebte ihm die Frage danach gestellt, was von ihrer Beziehung übrig blieb oder überhaupt da war, wenn die Rituale, an denen er sie festmachen wollte, außer Kraft gesetzt waren. Wahr war sicher, dass ein Mensch nicht zu hundert Prozent einem anderen Menschen bekannt sein konnte, wahr war leider auch, dass er, Richard, das nicht annehmbar fand, zumindest nicht, was seine Geliebte betraf.

Sonstwohin kannst du dir deine Fluchtpunkte stecken! hatte sie in der letzten Diskussion, die er mit ihr hatte, geschrien, und was denn sei, wenn sie ihn zufällig einmal um 23.27 Uhr ganz dringend brauche, wenn er gerade in seinem verdammten Ehebett liege, und sie das Telefonat nicht vorher beantragt habe? Er hatte sie in ihrer Wut besonders reizend gefunden und über die hektischen Flecken, die sich an ihrem Hals in der Aufregung zeigten, gelächelt. Das Lächeln war ein Fehler gewesen. Sein letzter, denn danach hatte sie ihm keine Gelegenheit mehr dazu gegeben, Fehler zu machen.

Aber ein gemeinsames Maß festzulegen, ging es darum nicht in jeder Beziehung?

Außerdem ärgert er sich darüber, dass er jetzt, wenn er schon warten muss, kein Buch dabei hat.

Nicht einmal eine Zeitung.

Gestern hat er einen Artikel über die deutsche Entwicklungshilfe gelesen, in dem stand, dass diese Organisation ihre Tätigkeit grundsätzlich damit beginne, in jedem von ihr betreuten Land einen laut DIN und TÜV benennbaren Standard an Maßen und Normen zu installieren. Für den Handel, so hieß es in dem Artikel, sei eine solche verbindliche Skala unerlässlich, aber natürlich wusste Richard, dass so eine Skala auch und vor allem ein Herrschaftsinstrument war. Nun gut, Herrschaft war schließlich auch eine Art von Beziehung. Der Aufstand des jüdischen Todeskommandos in Treblinka allerdings, dem Vernichtungslager der Nazis, hatte erst geplant werden können, nachdem von der SS eine neue Lagerleitung installiert worden war, die sich streng an ihre eigene Ordnung hielt und damit berechenbar war. Was berechenbar ist und starr, kann man untergraben und brechen. Nur das Chaos entgleitet und bleibt. Und dann fällt ihm ein, dass er jetzt eigentlich so wie seine Geliebte gedacht hat.

Egal.

Weiß und voll wie ein Mond war jedenfalls ihr Hintern in den glücklichen Zeiten unter dem blauen Rock, den er so an ihr so mochte, zum Vorschein gekommen.

Endlich geht die Tür auf und Osarobo erscheint, wieder in seiner zu dünnen Jacke, und sagt zu ihm:

I’m sorry.

Ist schon in Ordnung.

Und dann gehen sie los.

Weißt du eigentlich, dass man hier auf dem Platz, Richard zeigt nach links auf den geschotterten Sportplatz, Fußball spielen kann?

Everybody you mean?

Aber ja — jeder.

Without paying?

Sicher, ohne zu bezahlen. Hast du einen Ball?

No.

Ob ihn jetzt jemand mit dem schwarzhäutigen Jungen die Straße entlanggehen sieht? Und was der dann wohl denkt? Jedesmal, wenn sie abbiegen, hält Richard kurz an und macht den Jungen auf das Straßenschild aufmerksam, damit der beim nächsten Mal den Weg selbst finden kann.

Weißt du, dass hier früher Osten war?

Osarobo schüttelt den Kopf: East?

Wahrscheinlich ist die Frage für jemanden, der aus Niger kommt, falsch gestellt, denkt Richard und versucht es noch einmaclass="underline"

Weißt du, dass es in Berlin einmal eine Mauer gab, die den einen Teil der Stadt vom andern getrennt hat?

I don’t know.

Einige Jahre nach dem Krieg wurde sie hier gebaut. Weißt du, dass es hier einmal Krieg gab?

No.

Einen Weltkrieg?

No.

Hast du den Namen Hitler schon einmal gehört?

Who?

Hitler, der den Krieg begonnen und all die jüdischen Menschen umgebracht hat?

He killed people?

Ja, er hat Menschen getötet — aber nur ein paar, sagt Richard schnell, denn schon tut es ihm leid, dass er sich beinahe dazu hätte hinreißen lassen, diesem Jungen, der gerade vor dem Schlachten in Libyen geflohen ist, vom Schlachten hier zu erzählen. Nein, Richard wird diesem Jungen nie davon erzählen, dass in Deutschland, gerade mal ein Lebensalter entfernt, das fabrikmäßige Ermorden von Menschen erfunden wurde. Er schämt sich dafür plötzlich so sehr, als sei das, was jeder hier in Europa weiß, sein ganz persönliches, niemandem auf der Welt zumutbares Geheimnis. Und gleich darauf, um nichts weniger heftig, trifft ihn seine eigene Hoffnung, durch die Ahnungslosigkeit dieses Jungen selbst noch einmal in ein Deutschland vor alldem versetzt zu werden, das schon, und auf immer, verloren war zur Zeit seiner Geburt. Deutschland is beautiful. Schön wäre das. Schön ist gar kein Ausdruck dafür.

Dann sind sie da. Der Vorraum, der Flur, die Küche, das Wohnzimmer mit Durchblick zur Bibliothek, die Treppe nach oben.

Du lebst hier mit deiner Familie?

Meine Frau lebt nicht mehr, antwortet Richard.

Oh, sorry. Du hast Kinder?

Nein.

Du lebst hier ganz allein?

Ja, sagt Richard. Komm, ich zeige dir das Klavier.

Das Klavier steht in dem kleinen Zimmer neben dem Eingang, von Richard und seiner Frau das Musikzimmer genannt. Seine Frau, Bratschistin bis zur Auflösung ihres Orchesters, hat hier früher geübt. Manchmal hat Richard sie auf dem Klavier begleitet, aber das alles ist schon eine Ewigkeit her. In letzter Zeit betritt er das Zimmer eigentlich nur noch, um für seinen Steuerberater die Rechnungen und Verträge zusammenzusuchen. In den Regalen ringsum stehen Aktenordner und Mappen, auch Fotoalben, alte Tonbänder, alte Kassetten, alte Schallplatten und ein paar Noten.

Richard klappt den staubigen Deckel des Instruments auf, räumt den Klavierhocker, auf dem ein Papierstapel liegt, frei und fragt: Brauchst du Noten?

Er weiß nicht, ob der Junge wirklich Klavier spielen kann. Aber vielleicht hat er ja irgendwo in Libyen gekellnert, und der Barpianist hat ihm Stunden gegeben. Oder Osarobo hat an einem Klavier, das irgendwo stand, selbst zu improvisieren begonnen.