Warum kann Richard, der am Nachmittag an den schwarzen und weißen, sitzenden und stehenden Menschen vorbeigeht, dann diese Stille nicht hören?
Er denkt an Rzeszów.
Ein Freund von ihm, ein Archäologe, hat ihm von den Funden bei den Ausschachtungen am Alexanderplatz erzählt und ihn eingeladen, die Grabungen zu besuchen. Zeit hat er ja nun, und im See schwimmen kann er ohnehin nicht, wegen des Mannes. Weitläufige Keller habe es früher einmal rings um das Rote Rathaus gegeben, hat sein Freund ihm erzählt. Unterirdische Hallen, in denen im Mittelalter ein Markt war. Während die Leute auf eine Verhandlung, auf einen Termin, einen Bescheid warteten, kauften sie ein, im Prinzip nicht anders als heute. Fisch, Käse und Wein, alles, was sich gekühlt besser hält, wurde in diesen Katakomben gehandelt.
So wie in Rzeszów.
Als Student hatte Richard in den sechziger Jahren zwischen zwei Vorlesungen manchmal am Rand des Neptunbrunnens gesessen, Hosenbeine hochgekrempelt, die Füße im Wasser, ein Buch auf dem Schoß. Auch damals waren diese Hohlräume schon in der Tiefe gewesen, nur durch ein paar Meter Erde von seinen Füßen getrennt, ohne dass er davon wusste.
Vor einigen Jahren, als seine Frau noch lebte, hatten sie im Urlaub einmal die polnische Kleinstadt Rzeszów besichtigt, die im Mittelalter ganz und gar untertunnelt worden war. Wie eine zweite, dem flüchtigen Blick verborgene Stadt war dieses Labyrinth unterirdisch gewachsen, spiegelbildlich zu den sichtbaren Häusern über der Erde. Jedes Bürgerhaus hatte durch den eigenen Keller hindurch einen Zugang zu diesem nur von Fackeln erhellten, öffentlichen Markt besessen. Und wenn oben Krieg war, verkrochen die Einwohner des Städtchens sich unten. Später im Faschismus die Juden. Erst die Nazis hatten die Idee gehabt, Rauch in die Gänge zu leiten.
Rzeszów.
Die verschütteten Hallen am Roten Rathaus aber waren sogar den Nazis verborgen geblieben. Nur die Berliner U-Bahn-Tunnel fluteten sie in den letzten Tagen des Weltkriegs. Wahrscheinlich um ihr eigenes Volk zu ersäufen, das vor den Bombenangriffen der Alliierten dorthin geflüchtet war. Lieber den Hals verrenken, als dem Wirt was schenken.
Ist einer von den Männern vielleicht schon zusammengebrochen? fragt eine junge Frau mit einem Mikrofon in der Hand, hinter ihr steht ein Hüne mit Kamera auf der Schulter. Nein, sagt einer der Polizisten. Werden sie künstlich ernährt? Bis jetzt noch nicht, sagt der Polizist, sehen Sie ja. Wurde schon einer ins Krankenhaus eingeliefert? Gestern einer, glaub ich, sagt ein anderer Uniformierter, aber vor meiner Schicht. Können Sie mir vielleicht sagen, in welches? Nein, das dürfen wir nicht. Aber dann krieg ich die Story nicht unter. Tja, sagt der erste, da können wir leider nichts machen. Sie verstehen, sagt die junge Frau, wenn nichts Besondres passiert, kann ich keine Geschichte draus machen. Jaja, das versteh ich. Und dann nimmt mir den Beitrag keiner ab. Der andre: Vielleicht tut sich heute noch was, vielleicht im Laufe des Abends. Die Frau: Ich hab maximal noch eine Stunde. Der Schnitt. Es gibt eine Deadline. Verstehe, sagt der Uniformierte und grinst.
Auch zwei Stunden später auf dem Rückweg zum Bahnhofsgebäude sieht Richard nicht zum Rathaus hinüber, er schaut nach links auf die Fontänen, sieht die treppenförmig angeordneten Bassins, die zum Sockel des Fernsehturms aufwärts führen. Gebaut zu sozialistischen Zeiten, Sommer für Sommer übersprudelt von Wasser, ein Wagnis für glückliche Kinder, die auf den Querstegen mitten hindurch balancierten, ringsherum ihre lachenden, stolzen Eltern, und Kinder wie Eltern von Zeit zu Zeit aufblickend zur silbrigen Kugel des Turms, den Schwindel genießend: Er stürzt! Er stürzt auf uns herunter! Dreihundertfünfundsechzig Meter bis zur äußersten Spitze, die Tage eines ganzes Jahres in Metern gemessen, sagt der Vater, und: nein, er stürzt nicht, das sieht nur so aus, sagt die Mutter den tropfenden Kindern. Der Vater erzählt den Kindern, aber nur, wenn sie wollen, die Geschichte vom Bauarbeiter, beim Bau der Spitze des Turms soll der heruntergefallen sein, aber weil der Turm eben so hoch ist, dauerte der Fall des Bauarbeiters so lange, dass es den Bewohnern der umliegenden Häuser gelang, schnell Matratzen herbeizuschaffen, während der Arbeiter fiel, einen ganzen Stapel Matratzen, während er fiel, fiel und fiel, und der Stapel war genau fertig, als der Arbeiter nach seinem langen Fall unten ankam, er landete weich darauf — wie die Erbsenprinzessin im Märchen! — und stand vollkommen unverletzt wieder auf. Die Kinder sind froh über das Wunder der Arbeiterrettung, nun aber wollen sie wieder spielen. Bei den Fontänen am Alexanderplatz in Berlin sah die Menschheit Sommer für Sommer schon so heil und zufrieden aus, wie es im allgemeinen erst für die Zukunft versprochen war, für die ferne, vollkommen glückliche Zeit, Kommunismus genannt, die irgendwann für alle Menschen erreicht sein würde, nach treppenförmig angeordnetem Fortschritt bis in schwungvolle, kaum zu glaubende Höhen hinein, so in ein-, zwei- oder spätestens dreihundert Jahren.
Wider Erwarten aber war dann der Auftraggeber für die Fontänen, der volkseigene Staat, nach vierzig Jahren plötzlich abhandengekommen, mit dem Staat auch die dazugehörige Zukunft, nur die treppenförmig angeordneten Wasserspiele sprudelten weiter, sprudeln auch jetzt noch Sommer für Sommer in schwungvolle, kaum zu glaubende Höhen hinein, wagemutige, glückliche Kinder balancieren weiterhin quer, bewundert von ihren lachenden, stolzen Eltern. Was erzählt eigentlich so ein Bild, dem die Erzählung abhanden gekommen ist? Wofür werben die glücklichen Menschen heute? Steht die Zeit? Bleibt noch etwas zu wünschen?
Zu den Männern, die lieber sterben wollen als sagen, wer sie sind, haben sich Sympathisanten gesellt. Ein junges Mädchen hat sich zu einem der Schwarzhäutigen im Schneidersitz auf die Erde gesetzt, es unterhält sich leise mit ihm, nickt hin und wieder, und dreht sich dabei eine Zigarette. Ein junger Mann diskutiert mit den Polizisten, die wohnen doch gar nicht hier, sagt der junge Mann gerade, und der Polizist sagt, das wäre auch nicht erlaubt, na eben, sagt der junge Mann. Die schwarzen Männer liegen oder hocken auf dem Boden, manche haben einen Schlafsack unter sich ausgebreitet, andere eine Decke, wieder andere gar nichts. Einen Campingtisch haben sie als Stütze für ein Schild aufgestellt. Das Schild, das daran lehnt, ist eine große weißgestrichene Pappe, auf der in schwarzen Buchstaben steht: We become visible. Darunter hat in kleineren grünen Buchstaben jemand mit Filzstift die Übersetzung geschrieben: Wir werden sichtbar. Vielleicht der junge Mann oder das Mädchen. Von Richard, der gerade vorbeigeht, sähen die schwarzhäutigen Menschen, würden sie hinschauen, jetzt noch eben den Rücken: Aufrecht strebt da ein Herr dem Bahnhofsgebäude zu, ein Jackett hat er an, trotz der Hitze, nun verschwindet er zwischen den anderen Menschen, von denen manche es eilig haben und genau wissen, wohin sie wollen, andere nur so schlendern, den Stadtplan in Händen, sie wollen den Alex besichtigen, das Zentrum des Teils von Berlin, der so lange die Russische Zone hieß, Ostzone sagen, im Scherz, auch heute noch viele. Im Hintergrund des Gewimmels und eine Etage darüber erhoben, sähen die schweigenden Männer, schauten sie auf, auch die Fenster des Fitnesscentrums, das sich direkt beim Sockel des Turms unter einem kühn gefalteten Vordach befindet. Hinter den Fenstern Menschen auf Fahrrädern, und Menschen, die rennen, sähen, wie diese Menschen Stunde um Stunde auf die riesigen Fenster zufahren und — rennen, als wollten sie, so schnell es nur geht, hierher, zum Rathaus hinüber, zu ihnen, den Schwarzhäutigen, entweder, oder zur Polizei, sich solidarisch erklären, mit den einen oder den andern, und, wenn es sein muss, auf dem Wege dorthin sogar die Fenster zerstoßen und das letzte Stück fliegen oder springen. Aber es versteht sich von selbst, dass die Fahrräder wie auch die Laufbänder fest montiert sind, und die sporttreibenden Menschen sich nur auf der Stelle bewegen, aber nicht vorwärts. Denkbar ist, dass die Trainierenden sehen, was auf dem Platz alles los ist, aber um zum Beispiel zu lesen, was auf dem Schild steht, sind sie sicher zu weit entfernt.