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Bach? Mozart? Jazz? Oder Blues?

Osarobo schüttelt den Kopf.

Gut, dann lass ich dich jetzt hier allein. Komm, setz dich.

Der Junge setzt sich auf den Hocker und schaut Richard nach, als der ihm zunickt, den Raum dann verlässt und die Tür hinter sich schließt.

Richard hat gerade das Wohnzimmer erreicht, als er die ersten Töne hört. Mal einen, mal zwei, mal drei schlägt Osarobo an, Dissonanzen, mal hoch, mal tief, wieder und wieder. Das ist kein Johann Sebastian Bach, ist auch kein Mozart, kein Jazz und kein Blues. Osarobo hat noch nie zuvor in seinem Leben ein Klavier berührt, soviel ist sicher. Richard legt sich mit einer Zeitung aufs Sofa, liest ein, zwei Artikel, dann wird er müde, schläft unter der Kamelhaardecke ein, in seinen Vormittagstraum fallen die Töne, mal einer, mal zwei, mal drei, sie reiben sich aneinander, sind wieder still, versuchen es hier noch einmal und da, und die Stille zwischen den Tönen ist immer lebendig, so als würde der eine Missklang dem nächsten etwas erzählen, und der nächste nachfragen, und der dritte einen Moment lang abwarten. Als Richard irgendwann wieder aufwacht, blättert er weiter in seiner Zeitung. Ungefähr sieben Jahre hat er als Kind gebraucht, bis er sich beim Klavierspielen selber zuhören konnte und begriff, dass das, was er machte, Musik war. Wahrscheinlich wird überhaupt erst durch das eigene Zuhören aus den Tönen Musik. Was Osarobo da spielt, ist nicht Bach, nicht Mozart, nicht Jazz oder Blues, aber Richard kann Osarobos eigenes Zuhören hören, und dieses Zuhören macht für ihn aus den krummen und schiefen, beißenden, stolpernden, unreinen Tönen etwas, das, bei aller Willkür, dennoch schön ist. Er legt die Zeitung beiseite, geht in die Küche und setzt Kaffeewasser auf. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie lange sein Alltag schon ohne andere Geräusche ist, als die, die er selbst macht. Am zufriedensten ist er früher, in seinem alten Leben, gewesen, wenn seine Frau Bratsche übte, während er ein Zimmer weiter am Schreibtisch saß und an einem Vortrag oder Artikel schrieb. Glück des Paralleluniversums, hat er das seiner Frau gegenüber immer genannt. Sie aber beharrte, vor allem in den späteren Jahren, immer darauf, dass für das vollständige Glück einer Ehe der eine den anderen mindestens ansehen müsse, eigentlich aber berühren. Diese Diskussionen hatten leider weder sein noch ihr Glück vermehrt.

In seiner Kindheit hatte seine Mutter manchmal gebügelt, während er am Klavier saß und übte, deshalb meint er noch heute, wenn er Bachs Inventionen im Radio hört, es rieche plötzlich nach frischgewaschener Wäsche.

Als das Wasser kocht, geht er nach vorn, klopft an und fragt Osarobo, ob er auch gern Kaffee hätte? Oder Tee? Oder Wasser? Osarobo schüttelt den Kopf.

Macht dir das Klavierspielen Spaß?

Ja.

Ich bring dir ein Glas Wasser.

Er stellt das Glas links neben dem tiefen A ab und zeigt Osarobo, wie man die fünf Finger einer Hand der Reihe nach auf die Tasten setzt. Für jeden Finger ist eine Taste. Die Finger sind schwach und knicken um, und der kleine Finger wird von Osarobo gleich ganz vergessen. Aber das macht nichts. Nochmal. Und nochmal. Hier in der Mitte das Schlüsselloch für den Klavierdeckel, hier das eingestrichene C. Und dass die Hand schwer sein muss. Osarobos Hand ist nicht schwer. Lass sie fallen. Die Hand wird nicht schwer, warum? Weil Osarobo nicht loslässt, lass sie fallen, es geht nicht. Der schwarze und der weiße Mann schauen auf diesen schwarzen Arm und diese schwarze Hand wie auf etwas, das ihnen beiden Probleme bereitet, deine Hand hat ein Gewicht, Osarobo schüttelt den Kopf, doch, ganz sicher, lass sie fallen, Richard wiegt den Ellenbogen von unten und sieht die Narben auf diesem Arm, den sein Inhaber unter Kontrolle behalten will, die Hand ist jederzeit bereit, zurück zu zucken, die Hand hat Angst, die Hand ist fremd hier und kennt sich nicht aus. Lass sie fallen. Richard denkt daran, wie sich Osarobo letzten Freitag in dem Café an seinem Handrücken gezupft hat, an der schwarzen Haut, in die er für sein Leben gesteckt ist. Mit aller Anstrengung erreicht Osarobo nicht, dass die Anstrengung aufhört. Wo beginnt Mozart?

Und weil drei Stunden schon beinahe um sind, fragt Richard den Jungen, ob er gern Pizza essen würde, no problem, sagt Osarobo. Während Richard hinausgeht, die tiefgefrorene Pizza in den Ofen schiebt und den Tisch deckt für zwei, wie schon lange nicht mehr, hört er die fünf Töne schon in der richtigen Folge, ein Ton pro Finger, und dann eine Pause, und dann wieder die fünf Töne und wieder. Die linke Hand auch, ruft er, und weil Osarobo ihn nicht versteht, geht er noch einmal hin und zeigt ihm, dass die linke Hand die Übungen genauso wie die rechte machen muss, nur spiegelverkehrt.

Osarobo isst nur ein kleines Stück Pizza, mehr mag er nicht, danke. Und Wasser, ja, aus dem Wasserhahn, ja, ohne Sprudel.

Weißt du, wie du jetzt wieder zum Heim zurückkommst?

I don’t know.

Richard holt einen Stadtplan, zeigt Osarobo auf dem ausklappbaren Sonderteil des Berliner Stadtplans den Namen der Vorstadt, dann seine Straße und fährt mit dem Finger über die Linien: Hier musst du links gehen, dann die Soundso-Straße, hier an der Seite vom Platz entlang, dann rechts einbiegen und schließlich zum Heim hinüber. Und dann sieht er, wie Osarobo die Karte zu verstehen versucht, und dann weiß er, dass Osarobo, der von Niger über Libyen nach Italien und von Italien bis nach Berlin gekommen ist, noch nie von irgendeiner Stadt einen Stadtplan und noch nie von irgendeinem Land eine Landkarte gesehen hat.

Und dann steht er mit Osarobo gemeinsam auf, zieht sich die braunen Schuhe an, die am bequemsten sind, und begleitet ihn auch auf dem Rückweg.

25

Die Äthiopierin trägt die Haare heute nach oben gesteckt, aber einige Strähnen ringeln sich um ihr Gesicht. Während sie mit Leseübungen für die Analphabeten unter den Schülern beginnt, macht Richard sich in einer Ecke des Raumes mit den zwei fortgeschrittenen Schülern, die sie ihm zugeteilt hat, daran, einen Konversationskurs zu eröffnen. Guten Tag, wie geht es, wie heißen Sie, aus welchem Land sind Sie, wie alt, und seit wann in Berlin? Yussuf ist aus Mali und Ali aus dem Tschad. Es freut Richard, dass er im selben Raum wie die Lehrerin unterrichtet, denn so sieht er, wie sie etwas erklärt, ihren Schülern Wörter diktiert, ihnen beim Schreiben hilft, mit dem Handballen hier und da etwas an der Tafel wegwischt, etwas anderes hinschreibt, dann in die Runde fragt, manchmal streift sie mit dem Blick dabei sogar die Fortgeschrittenen-Gruppe. Er seinerseits kommt nun mit Ali und Yussuf auf die Berufe zu sprechen: Ich habe in Libyen auf dem Bau gearbeitet und in Italien als Krankenpfleger, sagt Ali. Als Krankenpfleger, wirklich? Ja, eine Zeitlang. Und Yussuf? Ich habe in Italien in der Küche gearbeitet. Aha, Yussuf, du bist also Koch? Richard rührt in einem imaginären Topf. Nein. Was hast du in der Küche gemacht? Ich habe Teller saubergemacht. Aha, du warst also Tellerwäscher. Wie heißt das? Tellerwäscher. Sein fortgeschrittener Schüler hält ihm seinen Block hin, er soll ihm das Wort notieren. Dann liest Yussuf ab: Tellerwäscher, Richard feilt mit ihm noch an dem»Ä«, und dann ist die Aussprache so gut wie perfekt: Tellerwäscher! Tellerwäscher! Ich bin Yussuf aus Mali und habe in Italien als: Tellerwäscher gearbeitet! Richard sieht den lachenden Yussuf aus Mali, einen kleinen, kohlrabenschwarzen Mann, der in Italien, bevor er nach Deutschland kam, als Tellerwäscher gearbeitet hat. Die Aussprache ist perfekt. Der Satz ist perfekt. Als Satz. Als Aussage ist er, ganz sicher, Yussufs Verhängnis. Soviel hat Richard schon von den europäischen und deutschen Gesetzen verstanden. Unwillkürlich fällt ihm eine Zeile von Brecht ein: Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen. Hast du, fragt er Yussuf jetzt, bevor du nach Italien kamst, in Libyen vielleicht eine Ausbildung gemacht? Nein, sagt Yussuf. Und in Mali? Nein, sagt Yussuf, ich wäre gern in eine Schule gegangen, aber meine Eltern hatten kein Geld. Und schon lacht er wieder: Jetzt bin ich hier und kann schreiben und lesen, ich spreche Arabisch, Französisch, Italienisch, Englisch, bald auch Deutsch — jetzt kann ich viel mehr als die Schüler in Mali!