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Das glaubt Richard gern.

Und du? fragt er Ali.

Ich bin nur auf eine arabische Schule gegangen. Mein Vater hat gesagt, erst wenn ich mit der arabischen Schule fertig bin, darf ich eine französische Schule besuchen. Was ist eine arabische Schule? Wir haben den Koran auswendig gelernt. Du kannst den Koran auswendig? Nicht den ganzen, nur etwa drei Viertel. Du kannst drei Viertel vom ganzen Koran auswendig auf Arabisch? Ja. Aber dann sind wir nach Libyen geflohen. Englisch habe ich erst in Italien von meinen Freunden gelernt. Und Italienisch von der alten Frau, die ich gepflegt habe, in drei Monaten nur, aber Deutsch ist schwerer.

Die Äthiopierin wiederholt mit ihren Schülern gerade den Stoff der vorletzten Woche: Um das Perfekt zu bilden, braucht man immer zwei Verben. So hat Richard sie kennengelernt, an der Tafel vorbeischwimmend (bin geschwommen), fliegend (bin geflogen), gehend (bin gegangen). Glück des Paralleluniversums. Was würdest du denn, fragt er nun Ali, gern für einen Beruf lernen? Ich würde gern ein richtiger Krankenpfleger sein. Und du? fragt er Yussuf: Ich wäre gern Ingenieur. In der Pause, die jetzt eintritt, in der Richard überlegt, was er nun sagen soll, als Bewohner eines Landes mit 70 000 unbesetzten Lehrstellen und mit Fachkräftemangel, das dennoch die schwarzhäutigen Flüchtlinge, die nun einmal nicht wie die Vögel im Frühling über Italien oder Griechenland oder die Türkei hinwegfliegen können, ohne den Fuß auf den falschen Boden zu setzen, nicht einmal als Bewerber um Asyl akzeptiert, geschweige denn aufnimmt, ausbildet und ihnen Arbeit gibt, in dieser kleinen Pause, wirft Richard ganz in Gedanken, einen Blick zur Lehrerin hinüber: Für das Perfekt hat sie immer zwei Männer paarweise nach vorn gestellt — einer stellt das Hilfsverb sein oder haben dar, und der andere das Verb, das gebeugt wird. Khalil und Mohamed sind Freunde, sagt sie, nicht wahr? Ja, sagen alle. Und Moussa und Yaya auch, oder? Ja, sagen alle. Moussa ist der mit der blauen Tätowierung im Gesicht, den Richard schon damals auf dem Oranienplatz gesehen hat. Nun, da die Lehrerin den Gegensatz von Perfekt und Präsens verdeutlichen will, fragt sie nach einem von ihnen, der immer ganz allein sei, der keinen Freund habe und mit niemandem spreche. Die Stille, die auf ihre Frage folgt, ähnelt der Stille, die von Richard ausging, nachdem Yussuf eben Ingenieur gesagt hat. Es folgt ein Murmeln und aus dem Murmeln bildet sich allmählich ein Name, und der Name ist Rufu. Rufu kommt nach vorn, als Beispiel für jemanden, der immer allein ist, kommt folgsam nach vorn, um sich in seiner Einsamkeit anschauen zu lassen. Ingenieur, denkt Richard, Menschenskind, und sieht, dass die Lehrerin auch gerade verstummt. Rufu steht da vorn an der Tafel als Beispiel für die Zeitform der Gegenwart, die keines Hilfsverbs bedarf. Ich gehe, sagt die Lehrerin nun merklich schneller. Ich schwimme. Und — ich fliege. Also: das Verb in der Gegenwart ist immer allein. Jetzt könnt ihr euch alle wieder setzen. Und da gehen die beiden Freunde Khalil und Mohamed, und der im Gesicht blau tätowierte Moussa mit seinem Freund Yaya paarweise, aber Rufu allein — alle wieder auf ihre Plätze zurück. Richard seinerseits sagt zu seinen zwei fortgeschrittenen Schülern: Egal, welchen Beruf ihr einmal ausüben wollt, es ist auf jeden Fall sehr gut, wenn ihr Deutsch lernt.

Das Gesicht von Rufu.

Im Wismarer Dom hat Richard einmal eine Madonna gesehen, die mit beiden Füßen auf dem Kopf eines am Boden liegenden Mohren stand. Wie er später nachlas, war es gar nicht der Kopf eines Mohren, sondern sollte in Wahrheit der Mond sein, der zur Entstehungszeit des Altars um 1500 noch silbern bemalt war, aber die silberne Farbe ist mit den Jahren dunkel geworden. Fünf Jahrhunderte hat es gedauert, bis die Madonna nun einen schwarzen Mond in den Staub tritt, und dieser Mond hat, fünf Jahrhunderte später, so ein Gesicht wie Rufu, der auf der Welt ganz allein ist, keinen Freund hat und mit niemandem spricht.

Wenigstens stellt sich die Frage, wie der Unterricht nun weitergehen soll, weder für die Lehrerin noch für Richard, denn nun kommt zur offenen Tür plötzlich Apoll hereingestürmt, seine quicklebendigen Haare springen auf und ab, er spricht laut und schnell zu den anderen auf Hausa, dann wieder auf Italienisch, dann auf Französisch, dann wieder auf Hausa. Alle fangen jetzt an, in verschiedenen Sprachen miteinander zu diskutieren, packen ihre Hefte zusammen, stehen auf und verlassen schließlich den Raum. Der Unterricht scheint sich selbst beendet zu haben. Auf dem Weg nach draußen sagt Tristan-Awad zu Richard:

How are you?

Fine, aber was ist denn los?

Der Umzug nach Spandau, der morgen stattfinden sollte, ist wegen der sickness noch einmal verschoben.

Wegen der Windpocken?

Ja.

Und welcher Umzug nach Spandau?

In ein anderes Haus — wir hatten alle schon unsere Sachen gepackt.

Du auch?

Ja.

Aha.

Take care, sagt Tristan noch und wartet, bis Richard ihn wirklich anschaut und nickt, aber dann ist auch er zur Tür hinaus und verschwunden. Pass auf dich auf, das hat schon lange niemand mehr zu Richard gesagt. Die Lehrerin hat indessen die Tafel abgewischt, jetzt packt sie ihre Buchstaben ein, Richard fragt sie: Haben Sie von dem Umzug gewusst?

Nein, sagt sie.

Auf Wiedersehen, sagt sie und greift nach ihrer Tasche.

Auf Wiedersehen, sagt Richard und wundert sich, dass sie nicht losgeht.

Mit Rufu — das tut mir leid.

Naja, sagt er, auch mir sind solche Sachen passiert — ganz normale Sätze hören sich hier plötzlich ganz anders als sonst an.

Trotzdem.

Dann erst verlässt sie den Raum.

Dass sie mit sich nicht zufrieden ist und das sogar ihm gegenüber bekennt, gefällt ihm. Gefällt ihm vielleicht sogar noch mehr, als ihre Haare, ihre Brüste, ihre Nase und ihre Augen. Immer sind es die Falschen, die sich Gedanken um ihre Versäumnisse machen, denkt er, die, die ohnehin am allerwenigsten Schuld auf sich laden und sich trotzdem zermartern, so wie sein graubärtiger Kollege, Fachgebiet Altertumskunde, der schon am Morgen nach dem Mauerfall eine Selbstkritik ans Schwarze Brett heftete, in der stand, dass er geglaubt habe, an der Verwirklichung dessen zu arbeiten, was er für den Willen des Volkes hielt, und nun eines Besseren belehrt sei. Eine Selbstbezichtigung jedoch des jungen Kollegen, Fachgebiet Byzantinische Literatur, der als informeller Mitarbeiter der Stasi den konspirativen Bericht über Richards außereheliches Verhältnis geschrieben hatte, hing weder gleich nach dem Mauerfall, noch je zu einem späteren Zeitpunkt am Schwarzen Brett. In seiner Akte hatte Richard diesen Bericht ’95 gefunden: Ansatzpunkte für Gegner gegeben durch Arroganz und vorliegende Hinweise auf eheliche Untreue (aktive Verbindung mit der wissenschaftlichen Assistentin XXX. Selbige arbeitet bei Prof. XXX). Zum weiblichen Geschlecht hat die Person im allgemeinen große Neigungen und ist kontaktfreudig. Seine politisch-ideologische Grundposition unterliegt starken Schwankungen. Zu politisch angespannten Zeiten neigt die Person zu politischen Fehleinschätzungen, die bis zu Äußerungen mit feindlich-negativem Charakter gehen. Für eine konspirative Zusammenarbeit gemäß RL 1/79 ist die Person nicht geeignet. Der byzantinische Kollege hat jetzt einen Lehrstuhl in Basel. Der Graubärtige ist fünf Jahre nach dem, was jetzt überall Wende genannt wird, gestorben. Die DDR-Geschichte könnte, wenn man so will, inzwischen auch Forschungsgegenstand sein in der Altertumskunde, denkt Richard und stellt sich einen Moment lang vor, Honecker hätte seine Reden als Staatsratsvorsitzender auf Lateinisch gehalten — er grinst vor sich hin ins Leere, bevor er bemerkt, dass er grinst. Ob dieses Grinsen, das er in letzter Zeit häufiger an sich bemerkt, ein Zeichen von Senilität ist? Oder von Abgeklärtheit? Dann macht er das Licht aus.