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Zum Abendbrot macht Richard sich belegte Brote mit Käse und Schinken, dazu Salat. Den Käse gab es heute im Supermarkt, der früher Kaufhalle hieß, zu einem Sonderpreis, weil dessen Haltbarkeitsdatum bald abläuft. Er muss nicht sparen, seine Pension reicht hin, aber warum soll er mehr bezahlen als nötig. Zum Salat schneidet er Zwiebeln, sein ganzes Leben schon schneidet er Zwiebeln, aber neulich erst hat er in einem Kochbuch gesehen, wie man die Zwiebel hält, wenn man nicht will, dass sie beim Schneiden wegrutscht. Für alles gibt es eine ideale Form, für die profanen Dinge des Lebens ebenso wie für Arbeit und Kunst. Im Grunde genommen, denkt er, versucht man sein ganzes Leben wahrscheinlich nur, diese Form zu erreichen. Und hat man sie endlich in einigen Dingen erreicht, wird man von der Erde gewischt. Immerhin ist er jetzt schon eine Weile darüber hinaus, mit dem, was ihm gelingt, anderen etwas beweisen zu wollen, es sind ja auch gar keine anderen da. Seine Frau sieht es nicht mehr. Und seine Geliebte hätte sich herzlich wenig für die Kunst, eine Zwiebel zu schneiden, interessiert. Nur er selbst kann sich jetzt noch, wenn ihm etwas gelingt oder er etwas verstanden hat, darüber freuen. Er freut sich. Und seine Freude verfolgt keinen Zweck mehr. Das ist der erste Vorteil davon, dass man allein lebt: Alle Eitelkeit erweist sich als Ballast. Und der zweite: Es ist niemand mehr da, die Ordnung zu stören. Aus altbackenem Brot brät man Würfel für den Salat, um die Teebeutel wickelt man, wenn man sie aus der Kanne herausnimmt, den Faden und presst sie noch einmal fest aus, die Hochstammrosen werden im Winter nach unten gebeugt und mit Erde bedeckt — und so weiter. Die Freude an dem, was am richtigen Platz ist, was nicht verlorengeht, was auf die richtige Weise gehandhabt wird und nicht verschwendet, die Freude an dem, was gelingt, ohne ein anderes am Gelingen zu hindern, ist, so sieht er das, in Wahrheit die Freude an einer Ordnung, die nicht von ihm errichtet, sondern von ihm nur gefunden werden muss, die außer ihm liegt, und ihn gerade deshalb verbindet mit dem, was wächst, fliegt oder gleitet, ihn dafür zwar von manchen Menschen entfernt, aber das ist ihm gleich.
Damals, als seine Geliebte ihn auszulachen begann und dann von seinen Ermahnungen immer öfter gereizt war, hatte er dennoch nicht aufhören können, auf dem einen oder anderen Handgriff, der ihm ein für allemal richtig zu sein schien, zu beharren. Mit seiner Frau war er sich, in dieser Hinsicht zumindest, fast immer einig gewesen. Sie selbst war am Ende des Krieges als deutsches Mädchen von deutschen Tieffliegern in die Beine geschossen worden, als sie vor russischen Panzern davonlief. Hätte ihr Bruder sie damals nicht von der Straße gezogen, hätte sie sicher nicht überlebt. Alles, was man nicht überblickt, ist tödlich, hatte seine Frau so schon mit drei Jahren gelernt. Er selbst war bei der Übersiedlung seiner Familie von Schlesien nach Deutschland noch ein Säugling gewesen und wäre im Tumult der Abreise beinahe von seiner Mutter getrennt worden, hätte ihn nicht auf dem überfüllten Bahnsteig ein russischer Soldat seiner Mutter über die Köpfe vieler anderer Aussiedler hinweg noch ins Zugabteil hineingereicht. Diese Geschichte war ihm von seiner Mutter so oft erzählt worden, dass er sie beinahe für seine eigene Erinnerung hielt. Kriegswirren hatte sie das genannt. Auch sein Vater war wahrscheinlich Erzeuger von Kriegswirren gewesen, als Soldat an der Front in Norwegen und in Russland. Wie viele Kinder hatte sein Vater, selbst fast noch ein Kind, wohl dort von ihren Eltern getrennt? Oder ihren Familien im letzten Moment noch zugereicht? Zwei Jahre später erst hatte der Heimkehrer seine inzwischen nach Berlin übersiedelte Familie wiedergefunden und seinen Sohn zum ersten Mal im Leben gesehen. Suchmeldungen vom Roten Kreuz gab es im Radio noch viele Jahre, da saß der Vater längst schon wieder auf dem Sofa neben der Mutter, vor sich ein Stück Bienenstichtorte und eine Tasse echten Bohnenkaffees, da war der in den Kriegswirren beinahe verlorengegangene Säugling längst schon ein Schulkind. Nach dem Krieg fragen konnte das Kind seinen Vater nie. Lass mal, die Mutter, Kopfschütteln, Abwinken, lass mal den Vater in Ruhe. Der Vater einfach nur still. Was wäre aus dem Säugling geworden, wenn der Zug sich zwei Minuten früher in Bewegung gesetzt hätte? Was wäre aus dem Mädchen, Richards späterer Frau, geworden, wenn der Bruder es nicht von der Straße gezogen hätte? Zwischen einem Waisenjungen und einer Toten hätte es jedenfalls, soviel ist sicher, keine Hochzeit gegeben. Störe meine Kreise nicht, soll Archimedes, mit dem Finger geometrische Figuren in den Sand zeichnend, zu dem römischen Soldaten gesagt haben, der ihn danach erstach. Das Unverwirrte ist nicht selbstverständlich, darüber war Richard sich mit seiner Frau immer einig gewesen. Wahrscheinlich verstand sie deshalb um so viel besser als seine junge Geliebte, worum es ihm ging, wenn er in allem, was ihm begegnete, nach dem wirklich Richtigen suchte. Getrunken hatte sie auch. Aber das war eine andre Geschichte.
Er setzt sich zu Tisch und schaltet den Fernseher ein, in der Abendschau bringen sie Nachrichten aus Stadt und Region: ein Überfall auf eine Bank, der Streik der Flughafenbelegschaft, das Benzin wird wieder teurer, auf dem Alexanderplatz haben sich zehn Männer versammelt, Flüchtlinge offensichtlich, und sind in einen Hungerstreik getreten, einer der Hungerstreikenden ist zusammengebrochen und wurde ins Krankenhaus abtransportiert. Auf dem Alexanderplatz? Man sieht, wie ein Mann auf einer Liege in einen Krankenwagen geschoben wird. Dort, wo Richard heute gewesen ist? Eine junge Journalistin spricht in ein Mikrofon, im Hintergrund hocken und liegen ein paar Gestalten, man sieht einen Campingtisch mit einem Pappschild: We become visible. In grüner, kleinerer Schrift darunter: Wir werden sichtbar. Warum hat er die Demonstration dann nicht gesehen? Das erste Brot hat er mit Schnittkäse belegt, nun kommt das zweite, mit Schinken. Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, Leichen von Erdbebenopfern, Flugzeugabstürzen, hier einen Schuh von jemandem nach einem Selbstmordanschlag, dort in Folien gewickelte Körper von Opfern einer Seuche, nebeneinander im Massengrab liegend. Er schämt sich auch heute, und isst trotzdem weiter, wie sonst auch. Als Kind hat er gelernt, was Not ist. Aber deswegen muss er nicht, nur weil ein Verzweifelter heutzutage einen Hungerstreik macht, gleichfalls verhungern. Sagt er sich. Helfen würde das auch nicht dem, der den Hungerstreik macht. Und ginge es dem so gut wie ihm, würde der genauso beim Abendbrot sitzen und essen. Bis ins Alter hinein ist er damit befasst, das protestantische Erbe seiner Mutter abzuschütteln, den Grundzustand der Reue. Von den Lagern aber hat auch sie nichts gewusst. Angeblich. Was war eigentlich, bevor Luther kam, an der Stelle der Seele, an der sich seither das schlechte Gewissen breitgemacht hat? Eine gewisse Taubheit ist seit dem Thesenanschlag einfach nur Notwehr, wahrscheinlich. Mit der Gabel fährt er in die volle Salatschüssel hinein, und sagt sich, während er kaut, dass es auch gedanklich unsauber wäre, wenn er eines Tages tatsächlich aus Solidarität mit dem oder jenem Armen oder Verzweifelten dieser Welt zu essen aufhörte. Aus dem Käfig der freien Entscheidung käme er ja dennoch niemals hinaus. Eingesperrt in den Luxus, wählen zu können, wäre sein Nichtessen um nichts weniger kapriziös als die Völlerei. Die Zwiebeln im Salat schmecken ihm gut. Frische Zwiebeln. Und die Männer weigerten sich immer noch, ihre Namen zu nennen, sagt eben die junge Frau. Sie scheint um die hungerstreikenden Männer besorgt, sie ist überzeugend besorgt. Ob der besorgte Tonfall inzwischen ein Prüfungsfach ist für Journalisten? Und ob das Bild von dem Mann auf der Liege überhaupt vom Alexanderplatz stammt? Summa hießen im Mittelalter die universalen Nachschlagewerke, in diesen Büchern sah der Stadtplan von Madrid genauso aus wie der von Nürnberg oder Paris — der Stadtplan erzählte nur, dass das, was den oder jenen Namen trug, eine Stadt war. Heute war es vielleicht nicht viel anders. Hatte er so eine Gestalt, die auf einer Liege abtransportiert wird, nicht schon in unzähligen Nachrichtensendungen über die verschiedensten Teile der Welt und anlässlich der verschiedensten Katastrophen gesehen? Warum war es überhaupt von Bedeutung, ob diese Bilder, die in Zehntelsekunden vorüberhuschten, wirklich Ort und Zeit mit dem Schrecken, der die Nachricht hervorgebracht hat, teilten? Konnte ein Bild ein Beweis sein? Und sollte es das? Welche Erzählung lag den beliebigen Bildern heutzutage zugrunde? Oder ging es gar nicht mehr um eine Erzählung? Sechs Menschen seien allein am heutigen Tag in den Gewässern rund um Berlin bei Badeunfällen ertrunken, sagt der Nachrichtensprecher jetzt zum Abschluss, einen traurigen Rekord nennt er es und leitet zum Wetter über. Sechs Menschen so wie der Mann, der noch immer unten im See ist. We become visible. Warum hat Richard die Männer am Alexanderplatz nicht gesehen?