Richard weiß, dass er zu den wenigen Menschen auf dieser Welt gehört, die sich die Wirklichkeit, in der sie mitspielen wollen, aussuchen können.
Einen Tag später, so liest er in der Zeitung, wird den Dachbesetzern Strom und Wasser gesperrt. Richard sieht ein Foto, auf dem steht ein Mann mit ausgebreiteten Armen auf dem Dach, er sieht wie eine Vogelscheuche aus. Das Dach sei durch Frost und Schnee rutschig, die Situation prekär, sagt die Bildunterschrift. Richard fragt sich, ob die Geschwindigkeit, mit der man Menschen zugrundegehen lässt, etwas mit der Reputation eines Landes zu tun hat. Warum eigentlich der Sprung eines Flüchtlings von einem Dach für das Ansehen des Landes um so viel schlimmer wäre, als dessen langsames Vergehen in einem elenden Leben? Wahrscheinlich, weil in so einem Moment sicher ein Fotograf vor Ort wäre, um auf den Auslöser zu drücken. Oder besteht der Skandal darin, dass diese Männer über ihren Tod selbst bestimmen wollen, anstatt ihr unmöglich gewordenes Leben immer weiter von irgendeinem Land, das sie nicht haben will, verwalten zu lassen? Ist die Frage nach der Macht über das eigene Leben immer noch in erster Linie eine Frage der Macht? Und nicht die nach dem Leben? Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern /des wütenden Geschicks erdulden oder, / Sich waffnend gegen eine See von Plagen, /Durch Widerstand sie enden?
Eine der größten deutschen Zeitungen schreibt im Internet einen launigen Artikel über die Flüchtlinge auf dem Dach: In Berlin sei eben immer was los. Richard liest: Wo hört der Protest auf und fängt die Erpressung an? Einen kurzen Moment versteht er diese Frage falsch und glaubt, mit Erpressung sei hier die Taktik der Polizisten gemeint, die Dachbesetzer durch das Abstellen von Strom und Wasser dazu zu zwingen, das Haus zu verlassen. Aber dann wird ihm schnell klar, dass stattdessen diejenigen, die ihr eigenes Leben zur Disposition stellen, als Erpresser bezeichnet werden. Die Leser der Zeitung loben den Artikel und beklagen sich in ihren Kommentaren allenfalls darüber, dass nur Flüchtlinge das Privileg haben sollen, auf einem Dach stehend, mit Selbstmord zu drohen. Und zu pinkeln natürlich.
Kaum in Deutschland, pinkelt der als ALLERERSTES vom Dach!
Als ALLERERSTES, denkt Richard, nunja, nach bald drei Jahren der Flucht und des Wartens.
Haben Sie die Herrschaften der» Flüchtlingsszene «und ihre Unterstützer schon jemals irgendwo geregelt arbeiten oder Werte schaffen gesehen? Ich jedenfalls nicht.
Ihnen das Arbeiten zu verbieten und ihnen gleichzeitig Untätigkeit vorzuwerfen, ist, findet Richard, rein gedanklich eine gewagte Konstruktion.
Geschildert wird in dem Artikel dieser wichtigen Zeitung, sozusagen dem Zentralorgan des neuen Deutschlands, auch das Leben und Treiben der Sympathisanten, die vor dem Haus ein Solidaritätscamp eingerichtet haben: Sie singen, sie tanzen, sie halten Fürbitten ab. Die Männer auf dem winterlichen Dach seien im Grunde genommen nur Opfer dieser Sympathisanten, würden für deren politische Ziele instrumentalisiert, nur fehle es ihnen an Intelligenz und Durchblick, um das zu erkennen. Richard erinnert sich an den jungen Mann mit dem Plakat, den er auf der Demonstration gesehen hat: Hoch leben die Schwulen und Lesben von Kenia! Wahrhaftig, Richard, ebenso wie die anderen Leser dieser wichtigen deutschen Zeitung beim Frühstück sitzend, in einem warmen Haus, vor sich Toast, Tee, Orangensaft, Honig und Käse, Richard sieht wahrhaftig eine düstere Zukunft über Deutschland heraufziehen, sollte sich dieser Unterstützer mithilfe der Flüchtlinge, die aus jugendlichem Übermut und politischer Verblendung auf dem Dach stehen und pinkeln, ins Kanzleramt putschen.
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Dass ihn bei der unerquicklichen Lektüre dieser Kommentare eine Nachricht von Karon unterbricht, kommt Richard gelegen.
Hi, schreibt der Dünne, how are you?
Richard schreibt zurück: Fine, how are you?
Es stellt sich heraus: Der Dünne hat einen Termin auf dem Bezirksamt.
Richard schreibt: Hast du jemanden, der dich begleitet?
Karon schreibt zurück: I have no body.
No body, schreibt er wirklich: Ich habe keinen Körper, statt nobody: niemand, und Richard denkt unwillkürlich wieder an die Toten auf Urlaub. Schon oft hat er gedacht, dass alle Männer, die er hier kennengelernt hat, genauso auch am Grund des Mittelmeers liegen könnten. Und umgekehrt, dass all diejenigen Deutschen, die während des sogenannten Dritten Reichs umgebracht wurden, Deutschland als Geister noch immer bewohnen, all die Fehlenden und auch deren ungeborene Kinder und Kindeskinder gehen, denkt Richard manchmal, neben ihm auf der Straße, sind unterwegs zur Arbeit oder zu Freunden, sitzen unsichtbar in den Cafés, spazieren, kaufen ein, besuchen Parks und Theater. Gehen, ging, gegangen. Die Trennlinie zwischen Geistern und Menschen war für ihn, und er weiß nicht, woran das liegt, schon immer sehr dünn, mag sein, weil er selbst damals, als Säugling, in den Wirren des Kriegs so leicht hätte verlorengehen und ins Totenreich abrutschen können.
Während er wenig später mit Karon ganz allein in einem langen Gang des Bezirksamts sitzt und darauf wartet, für Zimmer 3086 aufgerufen zu werden, fragt er: Wie also kauft man ein Grundstück in Ghana?
Karon wartet, bis die Schritte einer Beamtin, die auf Stöckelschuhen, einen dicken Aktenstapel unter dem Arm, gerade aus einer der vielen Türen herausgekommen ist und nun den Gang hinuntergeht, verklingen.
Auf dem Dorf, sagt er, weiß jeder, wem so ein Grund gehört und auch, wem er vielleicht vorher gehört hat, denn auf dem Dorf kennt von Geburt an jeder jeden. Der King muss zum Verkauf seine Einwilligung geben.
Der King?
Ja, sagt Karon. Dann bringt man drei Zeugen, die bei der Unterzeichnung des Vertrags dabei sind. Diese Zeugen erzählen, wenn ihre Kinder älter werden, den Kindern davon, wem das Grundstück gehört. Wenn die Eltern sterben, wissen die Kinder, wer der Eigentümer des Grundstücks ist.
Also wird die Zeugenschaft quasi vererbt?
Ja, sagt Karon.
Und woher weiß man, wie groß genau das Grundstück ist?
Es wird einfach gesagt: Von dem Baum dort bis zu jenem Stein, oder dem Haus, oder dem Fluss. Das können die Zeugen sich merken.
Frag doch einmal, ob es ein Grundstück in deinem Dorf gibt, das die richtige Größe für deine Familie hätte, sagt Richard.
Und dann geht die Tür des Zimmers 3086 auf und heraus schaut ein Beamter und sagt: Anubo, Karon?
Zwei Tage später bekommt Richard von einem Freund Karons das Foto eines Grundstücks geschickt: viel Grün, hier und da lehmige Erde, im Hintergrund ein paar Bäume. Im Vordergrund ist ein Schild aufgestellt, darauf steht mit Kohle geschrieben: Plot for sale, der Preis: 12 000 Ghanaische Cedi, darunter zwei Telefonnummern. Der alte Kaufvertrag, von dem auch ein Foto beigefügt ist, ist nicht einmal eine Dreiviertelseite lang — etwa so wie die Vereinbarung des Senats mit der Oranienplatz-Gruppe. Sharing common boundaries with the properties of Kwame Boateng, Alhassan Kingsley and Sarwo Mkambo. Gibt es das Grundstück wirklich? Wo liegt das Dorf überhaupt? Und wieviel wert ist ein Cedi?
Drei von den vier Unterzeichnern des vorigen Kaufvertrags haben ihren Finger in violette Tinte gedrückt und mit dem Abdruck unterschrieben.
Richard erinnert sich noch gut daran, wie er und seine Frau einige Jahre nach dem Mauerfall beschlossen, ihr Grundstück, das sie die ganze DDR-Zeit über gepachtet hatten, nun doch zu kaufen. Der oder jener ihrer Nachbarn war da schon in einen Prozess mit dem sogenannten Alteigentümer verwickelt, also demjenigen, dessen Familie das betreffende Grundstück bis zur Flucht aus der von den Russen besetzten Zone gehört hatte. Die Gesetzgebung des vereinigten Deutschlands knüpfte, wie bald allen DDR-Bürgern klar wurde, beim letzten Zeitpunkt, zu dem der Osten kapitalistisch organisiert war, an — also 1945. Aus eigentumsrechtlicher Sicht war das verständlich. Die Jahre zwischen 1945 und 1990 waren in diesem Teil Deutschlands ja nur ein nicht von Erfolg gekrönter Versuch gewesen, andere Besitzverhältnisse zu schaffen. Nun wurden die Grundbücher von 1945 wieder hervorgeholt, die Eintragungen vom Kriegsende einfach fortgesetzt und, wenn es sich nicht vermeiden ließ, um das bisschen Zeit dazwischen, das leider nicht anerkannt werden konnte, prozessiert. Im Computerdeutsch gab es für ähnliche Vorgänge eine Vokabeclass="underline" undo — ein Wort, das ihn von seinem ersten IT-Kurs an fasziniert hatte. Undo, so als könnte man Zeit, die stattgefunden hat, wieder zurückdrehen, Erfahrungen ungeschehen machen, als könnte man beschließen, was vergessen sein sollte, was nicht, könnte programmieren, was Folgen hat — und was keine. Bis zum sogenannten Wendejahr ’89 hatten Richard und seine Frau das Wort Grundbuch ein ganzes Leben lang nicht ein einziges Mal gehört. Zu ihrem Glück war der Eigentümer, dem ihr Grundstück gehörte, weder vor noch nach dem Mauerbau in den Westen geflohen, er war einfach im Osten geblieben und freute sich nun, dass der Verkauf des Grundstücks an seine langjährigen Pächter glückte und ihm den Lebensabend in diesem unbekannten Land, das inzwischen sein eigenes war, mitfinanzierte. Richard und seine Frau hatten einen Kredit aufnehmen und dafür Gehaltsnachweise beibringen müssen, für die Übergabe des Geldes musste ein Treuhandkonto eröffnet, und zur Beratung, ob der Vertrag in Ordnung war, ein Notar aufgesucht werden. Das Ganze hatte mehrere Wochen gedauert, und selbst nach dem Besitzübergang, wie es hieß, trafen noch etliche Rechnungen ein, die sich auf den Verkauf bezogen und erst bezahlt werden mussten, bevor der Vertrag rechtsgültig war.