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Was möchtest du denn bestellen?

Ich weiß nicht, sagt Karon, ich war noch nie in einem Café.

Noch nie in einem Café?

Nein, sagt Karon. Einmal in Italien habe ich mich am Bahnhof in ein Restaurant gesetzt, weil ich warten musste, sie haben mir eine Speisekarte gebracht, aber die konnte ich damals noch nicht lesen, da bin ich aufgestanden und wieder gegangen.

Erst ist das Geschäft in Tepa zu, aber dann gibt es ein andres Geschäft, und da ist erst niemand, aber dann doch, und als alles geklappt hat, hält Karon Richard das Telefon hin und Richard sagt: Hello, und eine alte Frau in Ghana sagt: How are you!

Das ist der einzige Satz, den meine Mutter auf Englisch kann, sagt Karon. Sie ist sehr glücklich und wollte dir gern persönlich danken.

Noch am Abend bekommt Richard ein Foto des neuen Kaufvertrags zugeschickt. Darauf steht, dass Karon jetzt der Besitzer eines Grundstücks in Ghana sei. Seine Mutter hat für ihren ältesten Sohn mit einem Daumenabdruck den Besitzübergang quittiert. Von dem Moment an, als Richard heute morgen, das Geld in die Innentasche seines Mantels gesteckt, in die S-Bahn gestiegen ist, bis zu dem Moment, in dem seinem Freund Karon ein Stück Land gehört, das seiner Familie das Überleben ermöglicht, sind nicht mehr als vierzehn Stunden vergangen.

Am Morgen schickt Karon eine SMS: Hi richard. i just want to see how are you doing, richard. I don’t no how to thanks you. only God no my heart but anyway wat I can say is may God protect you. always Good morning. karon

Immer Guten Morgen, denkt Richard, mehr kann man nicht wünschen.

48

Und nun macht Richard sich endlich auf den Weg in die Stadt, um zu sehen, was im Friedrichshain los ist. Seit einer Woche sind die oberste Etage des Heims und das Dach schon von den Flüchtlingen besetzt, keiner Hilfsorganisation wurde bisher der Zutritt gestattet, um den Männern Essen und Trinken zu bringen. Viele Sympathisanten sind da, weißhäutige und schwarzhäutige Menschen, Junge und Alte, Frauen und Männer. Richard sieht, soweit er die Lage überblickt, im Moment niemanden, der singt, tanzt oder eine Fürbitte abhält. Manche hüpfen von einem Bein auf das andre, aber nicht aus Spaß, sondern nur, weil ihnen kalt ist. Tristan, Yaya, Moussa und Apoll, auch Khalil, Mohamed, Zair und der lange Ithemba stehen dicht neben der Sperrlinie um eine Feuertonne herum und wärmen sich die Hände. Auf dem Dach ist niemand zu sehen. Die Polizisten stehen vor den Gittern, mit denen die Straße abgesperrt ist, auf dem verbliebenen schmalen Rest des Bürgersteigs gehen Passanten vorüber, Verwünschungen murmelnd, man weiß nicht genau, ob sie den Flüchtlingen gelten, die für den Ärger verantwortlich sind, oder dem überdimensionalen Polizeiaufgebot. Ja, sagt Zair, das Telefonnetz sei zwar wieder in Ordnung, aber seit gestern seien die Telefonakkus der Besetzer alle leer, weil es keinen Strom mehr zum Aufladen gebe. Dann habt ihr gar keinen Kontakt mehr zu den Leuten? No. Und sie haben bald nichts mehr zu trinken, weil das Wasser abgestellt ist, sagt Tristan. Eigentlich ist das beinahe so wie auf einem der Boote, mit denen die Männer von Libyen hergekommen sind, denkt Richard. Nur kann man aus einem Haus keine Plastikflasche herablassen, um wenigstens Meerwasser zu trinken. Richard steht noch eine Weile mit an der Feuertonne. Aber dann sieht er Rufu.

Rufu, der Mond von Wismar, sitzt auf einer Bank, von der nicht einmal der feuchte Schnee abgewischt ist. Auch Rufu selbst ist verschneit, die Flocken sind auf seinen Haaren und seinem Mantel liegengeblieben. Dadurch, und auch, weil er so ruhig dasitzt, sieht er beinahe aus wie ein Denkmal.

Rufu, wie geht’s dir? Come stai, Rufu?

Rufu versucht, den Kopf zu heben, um Richard anzusehen, aber es will ihm nicht gelingen.

Richard hockt sich vor ihn hin, klopft hier und da den Schnee von ihm ab, aber Rufu blickt starr geradeaus und murmelt nur leise vor sich hin, Richard kann ihn nicht verstehen.

Was ist? Was willst du sagen?

Tutto é finito, sagt Rufu. Tutto é finito.

Aber nein, Rufu, nein, sagt Richard, es ist nicht alles zu Ende. Irgendwann wird alles wieder gut, wirst sehen.

Rufu sagt etwas, aber in einer fremden Sprache, die Richard nicht versteht.

Willst du mit mir mitkommen, Rufu?

Blick geradeaus. Stille.

Dante lesen, Band 2?

Blick geradeaus. Stille.

Ich koche für dich — wir essen zusammen!

Si, sagt Rufu endlich.

Na, siehst du, alles wird wieder gut.

Richard versucht, ihm beim Aufstehen zu helfen. Wie ein Greis setzt Rufu sorgsam Fuß vor Fuß, um von der Stelle zu kommen, und stützt sich dabei auf Richard, der ihn untergehakt hat.

Da vorn ist schon die U-Bahn-Station!

Rufu strengt sich an, um nach vorn zu schauen, aber als er begreift, dass er nicht in Richards Auto einsteigen kann, sondern U-Bahn fahren soll, schüttelt er den Kopf und bleibt stehen.

Ist es dir zuviel? Willst du doch lieber hier bleiben?

Si.

Richard bringt ihn zurück zur Bank, den vierundzwanzigjährigen Greis.

Rufu, nimmst du irgendwelche Medikamente?

Sehr langsam greift Rufu in seine Hosentasche und fördert einen kleinen Papierschnipsel zutage, in den eine gelbe Pille eingewickelt ist.

Was ist das für ein Medikament?

Non lo so.

Wieso weißt du das nicht?

Blick geradeaus. Stille.

Rufu, du nimmst diese Pille nicht mehr ein. Hörst du?

Si.

Ich komme morgen früh ins Heim, dann zeigst du mir die Verpackung. Hast du verstanden?

Rufu nickt.

Kümmern sich deine Freunde um dich?

Si.

Richard geht noch einmal zu den andern zurück und fragt sie nach Rufu.

Wir wollten ihn nicht allein im Heim lassen, es geht ihm sehr schlecht.

Nehmt ihr ihn mit zurück?

Claro.

Rufu hat befolgt, was Doktor Richard gesagt hat, und die gelbe Pille, die er in der Hosentasche hatte, nicht mehr genommen. Am nächsten Morgen sieht er schon etwas wacher aus, kann seinen Kopf schon besser bewegen, Richard ansehen und Buongiorno sagen. Richard notiert sich den Namen des Medikaments von der Schachtel, eine Packungsbeilage ist nicht mehr dabei.

Zu Hause liest Richard im Internet über die Nebenwirkungen des Medikaments: Störungen der Stimme, Verstopfung der Atemwege, Probleme beim Sprechen, Schwierigkeiten beim Schlucken, Husten mit Auswurf, Lungenentzündung, die durch das Einatmen von Nahrung in die Atemwege verursacht wird. Warum kommt Richard gerade jetzt die Bach-Kantate in den Sinn? Vielleicht, weil Yussuf, der verrücktgewordene, zukünftige Ingenieur, vor dem Spandauer Heim Ich habe genug! geschrien hat. Ach! möchte mich von meines Leibes Ketten / Der Herr erretten; /Ach! wäre doch mein Abschied hier, / Mit Freuden sagt ich, Welt, zu dir: / Ich habe genug. Virusinfektion, Ohreninfektion, Augeninfektion, Mageninfektion, Infektion der Nasennebenhöhlen, Infektion der Harnblase, Infektionen unter der Haut, anomale elektrische Erregungsausbreitung des Herzens. Schlummert ein, ihr matten Augen, / Fallet sanft und selig zu! / Welt, ich bleibe nicht mehr hier, / Hab ich doch kein Teil an dir, / Das der Seele könnte taugen. Abfall des Blutdrucks nach dem Stehen, niedriger Blutdruck, Schwindelgefühl nach Lageänderung des Körpers, beschleunigter oder verlangsamter Herzschlag, Verwirrtsein, Mangel an Energie, Muskelschwäche, Muskelschmerz, Ohrenschmerzen, Nackenschmerzen, anomale Haltung. Hier muss ich das Elend bauen, /Aber dort, dort werd ich schauen / Süßen Frieden, stille Ruh. Beschwerden in der Brust, Entzündung der Haut, Gehstörungen, verminderter Appetit, Gleichgewichtsstörung, Sprachstörung, Schüttelfrost, anomale Koordination, schmerzhafte Überempfindlichkeit gegenüber Licht. Mein Gott! wenn kömmt das schöne: Nun! / Da ich im Friede fahren werde / Und in dem Sande kühler Erde / Und dort bei dir im Schoße ruhn? / Der Abschied ist gemacht, / Welt, gute Nacht! Taubheit von Gesicht, Armen oder Beinen, verwaschene Sprache, Schlaganfälle, unfreiwillige Bewegungen des Gesichts, der Arme oder Beine, Klingeln in den Ohren, Ohnmacht, Verlust des Bewusstseins. Ich freue mich auf meinen Tod /Ach, hätt’ er sich schon eingefunden. / Da entkomm ich aller Not, / Die mich noch auf der Welt gebunden.