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Wie hatte der verschneite Rufu gesagt?

Tutto é finito.

Eigentlich widerstrebt es Richard, aber dann ruft er doch Jörg an, den schnurrbärtigen Mann von Monika, denn der ist Psychiater.

Dieses Medikament verschreiben wir eigentlich nur bei alten Leuten, die manisch oder hyperaktiv sind und andere im Altersheim attackieren oder nachts nicht zur Ruhe kommen lassen.

Aber er war immer sehr ruhig, sagt Richard.

Vielleicht hat er Schübe.

Jedenfalls ist dieses Medikament das reine Gift.

Aber er nimmt es noch, oder?

Naja.

Wie — du hast es abgesetzt? Von einem Tag auf den andern? Das ist keine gute Idee.

Richard sagt dies, und erklärt das und jenes.

Ach so, sagt Jörg plötzlich, das ist ein Neger, verstehe.

Ja und?

Na, dann ist doch alles ganz einfach: Diese Kerle glauben noch an den Medizinmann! Du tanzt ein paarmal im Kreis um den herum — und schon ist er wieder gesund!

Und Jörg beginnt schallend zu lachen.

Wie oft ist Richard mit Jörg und Monika zusammen in den Urlaub gefahren? Zu DDR-Zeiten immer nach Ungarn und später dann auch nach Frankreich und Spanien? Wie oft hat er mit ihnen Wein getrunken, auf die oder jene Regierung geschimpft, Spaziergänge gemacht, Museen besichtigt? Ein Arzt kann ganz im allgemeinen der Menschheit zu dienen versuchen, aber genauso steht es ihm selbstverständlich frei, sich nur dem Dienst an einem bestimmten Teil dieser Menschheit zu verschreiben. Ein gewisser Dr. Thaler zum Beispiel hatte vor rund 200 Jahren in Wien dem gebürtigen Nigerianer Soliman nach dessen Tod mit höchster Erlaubnis durch Kaiser Franz die Haut abgezogen, hatte dem Mann, der dem Fürsten von Lobkowitz in einer Schlacht das Leben gerettet hatte, einem Neger mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte dem Fürstenerzieher derer zu Liechtenstein, einem Schwarzen mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte dem Freimaurer der Loge Zur wahren Eintracht, einem Mohren mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte sozusagen dem Bruder der Freimaurer Mozart und Schikaneder, dem Bürgen des sich um Inkorporation in die Loge bemühenden Wissenschaftlers Ignaz von Born, einem Afrikaner mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte einem verheirateten Wiener, der sechs Sprachen fließend beherrschte, dessen Tochter später mit dem Freiherrn zur Feuchtersleben verheiratet war, und dessen Enkel Eduard zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Dichter hervortrat, die Haut abgezogen, hatte also einem angesehenen Mann der Wiener Gesellschaft, der allerdings vor langer Zeit einmal ein afrikanisches Kind gewesen war, mit Namen Soliman, die Haut abgezogen, hatte einem Menschen, der zu Beginn seines Lebens auf dem Sklavenmarkt eingetauscht worden war für ein Pferd und später weiterverkauft nach Messina, mit Namen Soliman, kurz gesagt: einem ehemaligen Sklaven niederer Rasse mit Namen Soliman die Haut abgezogen. Hatte die Haut dann gegerbt, auf einen Corpus aus Holz aufgespannt, und, entgegen der Bitte von dessen Tochter, die darum bat, dass ihr die Haut ihres Vaters ausgefolget werden möge, um ihn ordnungsgemäß in der Erde zu bestatten, entgegen dieser töchterlichen Bitte deren ausgestopften Vater zur Erbauung des Wiener Publikums in einen Schaukasten im 4. Stockwerk des Kaiserlichen Naturalienkabinetts gestellt. Das Federröckchen, mit dem man den Mohren ausstattete, stammte zwar, wissenschaftlich nicht ganzkorrekt, von südamerikanischen Indianern, aber der exotische Aspekt des Präparats kam dadurch viel besser zur Geltung.

Einen Moment lang stellt Richard sich vor, im Staatlichen Museum von Kairo fände sich in einem Schaukasten zum Beispiel der ausgestopfte Archäologe Heinrich Schliemann, gekleidet in ein spanisches Stierkämpfergewand oder eine mongolische Tracht aus Schafleder und Seide. Was für Barbaren, könnte man in so einem Fall von den Ägyptern wohl mit Fug und Recht sagen. In Wien war der edle Wilde irgendwann aus dem Schaukabinett genommen, jedoch nicht beerdigt, sondern nur ins Depot gebracht und dort abgestellt worden, war dort eingestaubt und beinahe vergessen worden, bis sich während der bürgerlichen Erhebung 1848 endlich ein Feuer seiner sterblichen Überreste erbarmte.

Es gibt schwarze Vögel, warum nicht auch schwarze Menschen? Dieser Satz aus der Oper» Die Zauberflöte «hatte für Richard immer erschöpfend erklärt, was es über den Unterschied zwischen den Hautfarben zu sagen gab. Und es überraschte ihn keineswegs, dass sich anhand eines Gesprächs über einen Patienten aus Niger erwies, wen er hier in diesem Deutschland als einen Freund bezeichnen würde — und wen nicht.

Rufu hat keine italienische Krankenkassenkarte, denn sein permesso ist abgelaufen, und um zur Erneuerung nach Italien zu fahren, war er schon seit längerem zu krank.

Rufu hat auch keine deutsche Krankenkassenkarte, denn er darf in Deutschland kein Asylbewerber sein. Für eine Behandlung akuter Schmerzen könnte das Sozialamt einen Antrag bewilligen, aber dazu müsste der Patient erst einmal einen Antrag stellen und nachweisen, dass ihm etwas wehtut. Richard fragt Rufu nicht, ob er beim Sozialamt war, einen Antrag gestellt und einen Nachweis darüber erbracht hat, dass es ihm schlecht geht.

Ich bezahle die Untersuchung, sagt Richard.

Ist schon gut, sagt der junge Assistenzarzt in der psychiatrischen Praxis um die Ecke von Richards ehemaligem Institut.

Danke, sagt Richard.

Haben Sie Schmerzen? fragt nun der Psychiater Rufu.

Richard übersetzt.

Rufu nickt.

Was genau tut Ihnen weh?

Rufu zeigt auf seinen Kopf, die Schläfen, die Ohren, den Kiefer.

Können Sie den Mund weit aufmachen?

No.

Warum nicht?

Rufu zeigt zwischen die Zahnreihen, ins Innere seines Mundes.

Darf ich einmal? sagt der Arzt, und schiebt einen kleinen Spiegel hinein. Durch den Spalt beleuchtet er die dunkle Höhle, und dann sagt er: Da ist ein riesiges Loch in einem Zahn auf der rechten Seite.

Ein Loch in einem Zahn?

Ja, ein Loch in einem Zahn.

Rufu hat das Weihnachtsfest auf der geschlossenen psychiatrischen Station eines Berliner Krankenhauses verbracht und nach seiner Entlassung ein Medikament bekommen, an dem er, nach Richards Einschätzung, beinahe gestorben wäre, und nun stellt sich also heraus: Der Grund für dies alles war vielleicht nur das Loch in seinem Zahn.

Wie oft, zeigt sich auch bei dieser Untersuchung, dass alles davon abhängt, die richtigen Fragen zu stellen.

Rufu war sicher noch nie bei einem Zahnarzt, vielleicht weiß er gar nicht, dass die Zahnärzte von der Menschheit schon erfunden wurden, aber er setzt sich in der Praxis, in der Richard Patient ist, folgsam auf den Stuhl, und dann ist es für den Zahnarzt eine Sache von wenigen Minuten, das Loch zu verschließen.

Noch jeder, der mit so einem Loch in einem Zahn zu mir gekommen ist, sagt der Zahnarzt, hat gedacht, er verliere den Verstand vor Schmerzen. Der Schmerz ist so furchtbar, dass man ihn nicht mehr orten kann, das macht die Anamnese oft schwierig.

Wieviel bin ich Ihnen schuldig? sagt Richard.

Ist schon gut, lassen Sie mal, sagt der Zahnarzt.

49

Wohin ist Osarobo gegangen?

Gehen, ging, gegangen.

Seit über einer Woche schon versucht Richard, ihn anzurufen. Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar. Auch keiner von den Männern hat ihm sagen können, wo der Junge geblieben ist seit dem Freitag vor einer Woche. Deshalb ruft Richard sofort zurück, als Osarobo ihm schreibt: Hi.