Wo bist du untergekommen?
Bei einem friend.
Was für ein friend?
Ein Mann von der Elfenbeinküste.
Woher kennst du ihn?
Er hat auf dem Oranienplatz mit mir gesprochen.
Aha.
He’s got papers.
Okay.
Do you have work for me?
Nein, sagt Richard. Im Winter kann er Osarobo nicht einmal Laub harken lassen.
I need work, work, sagt Osarobo.
Ich weiß, sagt Richard, aber im Moment ist es schwierig.
Okay.
Osarobo hat den Weg vom roten Ziegelgebäude zu Richards Haus gelernt, dann kam die Übersiedlung nach Spandau. Er hat den Weg mit der S-Bahn von Spandau zu Richards Haus gelernt, und nun ist er bei einem Freund von der Elfenbeinküste in Berlin-Reinickendorf untergekommen. Bei der C-Dur-Tonleiter haben sie vor einigen Monaten angefangen. Als sie beim Bass für einen einfachen Blues waren, gab es den Umzug nach Spandau. Und dann haben sie die C-Dur-Tonleiter wiederholt, und den Bass für einen einfachen Blues wiederholt, und dann kam Anfang Januar die erste Ausweisungsliste, auf der Osarobos Name stand. Jetzt werden sie, wenn überhaupt, wieder bei der C-Dur-Tonleiter beginnen und bei dem Bass für einen einfachen Blues.
Die Zeit macht etwas mit einem Menschen, weil ein Mensch keine Maschine ist, die man an- und ausschalten kann. Die Zeit, in der ein Mensch nicht weiß, wie sein Leben ein Leben werden kann, füllt so einen Untätigen vom Kopf bis zu den Zehen.
Richard hat heute früh eine Einladung zu einem Colloquium in Frankfurt am Main bekommen. Ob er einen Vortrag halten würde zum Thema» Die Vernunft als feurige Materie im Werk des Stoikers Seneca«. Daran, dass das Colloquium schon in der übernächsten Woche stattfinden soll, hat er sehen können, dass er nur gefragt worden ist, weil ein anderer Vortragsredner plötzlich abgesagt hat. Über Seneca hat Richard, als er noch am Institut war, zwei Bücher geschrieben — den Vortrag zusammenzustellen, fiele ihm also sicher nicht schwer. Trotzdem hat er den Brief erst einmal beiseitegelegt und ist zum Steg hinuntergegangen, um den See anzuschauen.
Der See ist inzwischen ganz und gar zugefroren. Dadurch, dass es seit dem letzten Frost noch nicht wieder geschneit hat, liegt das Eis klar da wie schwarzes Glas. Richard hat ein paar im Eis festgefrorene Schilfhalme, Blätter und Algen gesehen und unter der Eisschicht, in der Tiefe, wo das Wasser noch flüssig ist, sogar einen großen, langsam schwimmenden Fisch. In den anderen Jahren ist er zusammen mit Detlef und Sylvia oft quer über den zugefrorenen See spaziert, aber in diesem Jahr hat keiner von ihnen diesen Vorschlag gemacht. Der Ertrunkene würde vielleicht versuchen, von unter dem Eis zu rufen, und sie würden ihn unter ihren Füßen sehen, mit offenem Mund, mit den Händen von unten das Eis abtastend, um eine offene Stelle zu finden, aber ehe sie eine Axt geholt und das Eis endlich aufgehackt hätten, wäre er bestimmt längst schon wieder zurückgesunken.
Willst du wieder Klavierspielen kommen? fragt er jetzt Osarobo.
Okay, sagt der.
Morgen vielleicht?
No problem.
Richard schickt, nachdem er aufgelegt hat, seine Zusage nach Frankfurt am Main und stellt sich einen Moment lang vor, wie seine ehemaligen Kollegen in zwei Wochen in einem großen Saal sitzen werden, Vorträge halten, sich gegenseitig zuhören oder miteinander diskutieren, wie auch er da sitzen wird, seinen Vortrag halten, den anderen zuhören und diskutieren, sechs Vorträge an einem Tag, er wird als zweiter dran sein, in der Pause wird es im Vorraum Kaffee aus großen Thermoskannen geben, Orangensaft, Mineralwasser und ein paar Kekse.
Ist das noch sein Leben?
Ist es je sein Leben gewesen?
Die letzten 25 Jahre hat er, durch die sogenannte Wiedervereinigung plötzlich in den Rang eines Westlers erhoben, zum Kreis der Eingeweihten gehört, auch jetzt lädt man ihn immerhin ein, wenn ein anderer ausfällt. Das Ausscheiden geht viel unmerklicher vor sich als der Eintritt in diese Welt, aber schließlich wird irgendeine Einladung tatsächlich die letzte in seinem Leben als Wissenschaftler sein, nur welche — das würde sich glücklicherweise erst im nachhinein, wenn er nichts mehr davon merkte, erweisen.
Einige der Kollegen, die auf der Tagung in Frankfurt sein werden, wird er noch kennen, und vielleicht wird sogar der Tacitus-Spezialist wieder da sein, mit dem er auf einem Kongress Anfang letzten Jahres ein interessantes Gespräch gehabt hat. Aber wenn die andern abends zum gemeinsamen Essen gehen — die Klugen, die Schrulligen, die Ehrgeizigen, die Schüchternen, die Langweiligen, die Besessenen und die Eitlen —, dann wird er schon wieder im Zug nach Berlin sitzen und darüber nicht unglücklich sein. Und wenn die andern im Einzelzimmer eines Frankfurter Hotels ihren Kopf auf ein Hotelkissen legen, wird er durch das Dunkel zwischen den Bäumen schon wieder zu seinem Haus hingehen. Und wenn die anderen zum zweiten Tag des Colloquiums in ihrem zweiten gebügelten Hemd erscheinen, wird er den See sehen.
Wovon lebst du jetzt? fragt Richard Osarobo am nächsten Tag.
Osarobo zuckt mit den Schultern.
Manchmal, sagt er, helfe ich Pakete einpacken.
Bei der Post?
Nein, Pakete, die nach Afrika geschickt werden.
Für eine Hilfsorganisation?
Ja, sowas.
Wird das bezahlt?
20 Euro am Tag.
Für wie viele Stunden?
Den ganzen Tag.
Und wie viele Tage die Woche?
Letzte Woche war ich einmal da. Und vielleicht in ein oder zwei Wochen wieder.
Ach so.
Am Oranienplatz ist immer mal jemand vorbeigekommen, der Arbeit für uns gehabt hat. Aber jetzt findet uns ja niemand mehr.
We become visible, denkt Richard.
Im März will ich nach Italien gehen.
Wohin denn?
Osarobo zuckt mit den Schultern.
Hast du dort Arbeit?
Osarobo zuckt mit den Schultern.
Bis Osarobo fortgeht, bleiben also nur noch sechs oder acht Wochen Klavierunterricht, denkt Richard und merkt wieder, wie Panik ihn anfällt. Vielleicht könnte er Osarobo bis dahin ein paar kleine Stücke beibringen, damit der tatsächlich mit dem Rollklavier Geld verdienen kann auf der Straße.
Als Markus, der Sohn von Detlef und Marion, fünfzehn Jahre alt war, hat sein Ziehvater ihn beim Abendbrot das Periodensystem der Elemente abgefragt, Detlef besorgte ihm, als er sechzehn war, einen Praktikumsplatz bei einem Ingenieur, und Marion machte ihm, als er Abiturprüfungen hatte, zum Frühstück Müsli mit frisch geriebenem Apfel, damit er sich besser konzentrieren konnte. Markus baut nun Brücken in China.
Osarobo hat mit fünfzehn Jahren gesehen, wie man seinen Vater und seine Freunde erschlug.
Und jetzt sieht er seit drei Jahren, dass die Welt ihn nicht braucht.
Weißt du noch: C-Dur? fragt Richard.
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Ursprünglich wollte Richard nur umarbeiten, was er schon in seinen zwei Büchern über Seneca gesagt hat, aber kaum hat er begonnen, in Senecas Schrift» Von der Seelenruhe «zu blättern, sind ihm neue Ideen gekommen, und er hat gemerkt, wieviel Freude ihm seine Arbeit immer noch macht. Sollen die Kollegen nur sehen, wen sie da mit einem tadellos funktionierenden Kopf in den Ruhestand verabschiedet haben. Wenn Vernunft wirklich feurige Materie wäre, wie von Diogenes als Erstem angenommen wurde, so sähe man es doch am besten daran, wie über die Jahrhunderte hinweg der eine Nachdenkende die Gedanken eines andern aufnimmt und versucht, ihnen das Eigene hinzuzufügen und sie so am Leben zu halten. So wie Richard bei Seneca liest: Zwinge Dich ständig daran zu denken, dass der, den Du Deinen Sklaven nennst, gleichen Ursprungs ist wie Du, dass er sich an demselben Himmel erfreut, dass er wie Du atmet, lebt und stirbt — so liest Seneca bei Platon, es gebe keinen König, der nicht von Sklaven, und keinen Sklaven, der nicht von Königen abstamme. Nur der Wechsel der Zeit habe all dies durcheinander geworfen und das Schicksal alles mehrfach umgekehrt. Und fanden sich bei Ovid nicht am Ende der Metamorphosen die gleichen Gedanken wie bei Empedokles: Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend, schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen, und in der Weite der Welt geht nichts — das glaubt mir — verloren; Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden heißt nur, anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen, nicht mehr sein wie zuvor. Ihm selbst, Richard, aber auch seinen Freunden Detlef oder Sylvia oder dem Hölderlinleser Andreas ist der Gedanke an die immerwährende Bewegung, an die Flüchtigkeit aller menschlichen Ordnungen und an die prinzipielle Umkehrbarkeit aller Verhältnisse schon immer selbstverständlich gewesen, das mochte an ihrer Nachkriegskindheit liegen, vielleicht auch an der Beobachtung der Hinfälligkeit des sozialistischen Systems, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatten, und das dann innerhalb weniger Wochen zusammenstürzte.