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Ist nun der schon so lange andauernde Frieden daran schuld, dass eine neue Generation von Politikern offenbar glaubt, am Ende der Geschichte angekommen zu sein, glaubt, es sei möglich, all das, was auf Bewegung hinausläuft, mit Gewalt zu unterbinden? Oder hat die weite räumliche Entfernung von den Kriegen der andern bei den unbehelligt Bleibenden zu Erfahrungsarmut geführt, so wie andere Menschen an Blutarmut leiden? Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?

Vielleicht ist der Weg der Vernunft auch zu vergleichen mit dem, was die Männer hinter sich haben? Wie bist du nach Libyen gegangen? fragt er Ithemba, der neben ihm steht, um sich an der Feuertonne die Hände zu wärmen. Über die algerische Grenze, drei Tage zu Fuß durch eine steinige Wüste. Manche haben sich einfach niedergelegt und konnten nicht mehr. Man lässt sie zurück. Man geht weiter. Was soll man machen? Man kann ihnen nicht mehr helfen. Und alles ist einem schwer dort, sagt er, man wirft das Hemd weg — so! sagt er und macht eine weite Bewegung mit den Armen, man wirft die Schuhe weg — so! Und macht vor, wie er damals in der heißen, steinigen Wüste im Grenzgebiet von Algerien und Libyen sein einziges Paar Schuhe von sich geworfen hat. Alles ist einem zu schwer, drei Tage geht man, und das einzige, was man unbedingt braucht, ist ein Kanister mit Wasser. Richard schaut zu dem Dach des Heims hinauf, auf dem im Moment nur ein Mann zu sehen ist. Der lehnt sich an einen Schornstein und steht einfach da. Ob auch der in der steinigen Wüste unterwegs war? Seit dreizehn Tagen sind die Männer nun schon da oben, um auf dem zu beharren, was ihnen in der Vereinbarung versprochen worden war: Hilfe und Unterstützung bei der Entwicklung ihrer beruflichen Perspektiven und so weiter. Richard sieht den Mann da oben stehen, über der Stadt, und denkt an den Toten, unten im See, und plötzlich kommt ihm das Warten wie eine Klammer vor, die alles, was zu ebener Erde geschieht, umfasst.

Vielleicht ist auch das, was Erinnerung ist, mit dem zu vergleichen, was die Männer hinter sich haben, denkt Richard. Wie begräbt man in der Wüste die Toten? fragt er Apoll. Das war die Frage, die damals unbeantwortet geblieben ist, als der Alarm plötzlich losging. Man schiebt in der Mitte einer Düne den Sand auseinander, macht eine Schneise, dort legt man den Toten hinein. Man betet. Was betet man? Apoll tritt mit Richard ein wenig beiseite in eine Toreinfahrt, in der sie vor dem schneidenden Wind geschützt sind, legt die Hände übereinander, blickt zu Boden und beginnt, das Totengebet zu sprechen. Unter seinen Füßen ein Gitter, auf dem steht noch aus der deutschen Kriegszeit Mannesmann Luftschutz. Und dann? Dann schiebt man den Sand zurück, über den Toten. Markiert man das Grab irgendwie? Nein, aber man weiß für immer die Stelle.

Vielleicht sagt das, was die Männer hinter sich haben, auch etwas aus über Macht und Ohnmacht? Er fragt Khalil, der mit einem Stock im Feuer stochert, wie seine Überfahrt damals war. Khalil sagt: Ich hatte nur Angst vor dem Wasser, deswegen war ich unter Deck. Ein Freund von mir, der oben geblieben ist, ist gestorben, weil die Sonne so heruntergebrannt hat. Er ist verdurstet. Auf dem Boot von Raschid dagegen, erinnert Richard sich noch, gab es gerade für alle diejenigen unter Deck durch die Kenterung nicht die geringste Aussicht auf Rettung. Dort war alles sofort geflutet, hat Raschid am Weihnachtsabend gesagt. Richard sieht, wie die Polizisten Wachablösung machen und deshalb für einige Minuten nicht 100 Mann, sondern 200 sind.

Am nächsten Morgen — Richard will gerade beginnen, die Notizen, die er sich vor dem besetzten Haus gemacht hat, in seinen Vortrag einzuarbeiten — erfährt er, dass der Senat die Vereinbarung mit den Flüchtlingen nun im nachhinein für ungültig erklärt. Ein Jurist aus Konstanz am Bodensee sei zu Rate gezogen worden. Eine entscheidende Unterschrift habe leider, leider! auf dem Papier gefehlt. Richard weiß, dass inzwischen verschiedene internationale Menschenrechtsorganisationen das Vorgehen des Berliner Senats gegenüber den in der obersten Etage ihres Heims verschanzten Flüchtlingen beanstandet haben, und er kann sich denken, dass das Gutachten des fernen Juristen im Zusammenhang mit dieser Kritik steht. Wenn ein Vertrag nicht bindend ist, gibt ein Vertragsbruch auch keinen legitimen Grund ab für einen Protest. Mit ein paar Buchstaben auf einem Brief aus Konstanz wird also das, worauf die Flüchtlinge seit Monaten warten, genau in diesem Moment, in dem die Erfüllung anstehen würde, für ungültig erklärt.

Später sieht Richard im Fernsehen, wie Raschid und ein paar andere, die auf diese Meldung hin versucht haben, im Schnee auf dem Oranienplatz demonstrativ einen Iglu zu errichten, um folgerichtig auch ihren Part der Vereinbarung zurückzunehmen, von der Polizei vom Platz geschafft werden. Die Gewalt, mit der dabei vorgegangen wird, hat ihre Wurzeln in der Inzucht, die die Gesetze mit ihrer Auslegung treiben, denkt Richard, im Grunde genommen also in nichts anderem als einem bisschen Tinte auf ein bisschen Papier. Richard sieht seinem ersten Besuch bei Ithembas Anwalt, den er für morgen zugesagt hat, unter diesen Umständen mit besonderer Neugier entgegen.

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Papst Benedikt habe bei seiner Abdankung gesagt, Europa ruhe auf drei Säulen: der griechischen Philosophie, dem Römischen Recht und der jüdisch-christlichen Religion. Der Anwalt des langen Ithemba ist sehr stolz auf sein Römisches Recht. Als er aufsteht, um Ithembas Akte zu holen, sieht Richard, dass er tatsächlich einen Bratenrock trägt, die Schöße des musealen Kleidungsstücks sind schon etwas angegraut, aber wehen frisch in einem Wind, dessen Ursprung in diesem stickigen, dunklen Büro kaum erklärlich ist. In Deutschland isst man Papier, sagt der Anwalt und fängt an zu kichern, während er sich wieder setzt und seine Ärmelschoner zurechtschiebt. Man isst Papier, sagt er noch einmal und kann das Lachen kaum mehr unterdrücken. Man isst Papier — isst in Deutschland Papier! bricht es aus ihm hervor, vor Lachen hat er nun Tränen in den Augen. Er sieht Richard und Ithemba erwartungsvoll an, aber Ithemba lacht nicht zurück, weil er nicht versteht, was sein Anwalt da sagt, und Richard fragt sich, ob der Anwalt auf das Bezug nimmt, was Ithemba gerade eben, im Vorzimmer zwischen Vietnamesen und Rumänen und anderen Afrikanern auf einem Klappstuhl sitzend, mit Blick auf die unzähligen Akten im Schrank der Sekretärin zu Richard gesagt hat: Papier kann man nicht essen. Aber wie sollte der Anwalt durch die doppelte Flügeltür, die zu seinem Büro führt, diesen Satz gehört haben? Zweiundsiebzig bin ich schon, sagt er jetzt, und sieht plötzlich irgendwie einem Uhu ähnlich, zweiundsiebzig! und beginnt abermals zu kichern, als wäre es wirklich ein toller Streich, den er den Behörden hier spielt, längst könnte er schon in Rente sein, aber stattdessen erhebt er Einspruch dagegen, dass das Sozialamt dem oder jenem Asylbewerber nur 280 Euro auszahlt statt der regulären 362, dass die Ausländerbehörde die italienischen Papiere der afrikanischen Flüchtlinge einbehält, um sie zur Ausreise zu zwingen, erst nach Vorlegung des Tickets bekommen die Ausreisewilligen ihr Dokument an der jeweiligen Grenzstation wieder ausgehändigt: Das dürfen die gar nicht! Das ist ein italienisches Dokument! Und übrigens missfällt ihm ebenfalls sehr, dass ausgerechnet das hauptstädtische Bundesland Berlin, im Gegensatz zu anderen deutschen Städten, serbische Roma- und Sintifamilien mit kleinen Kindern bei Minusgraden in die Slums von Belgrad zurückschickt und nicht einmal den anderswo üblichen Winteraufschub gibt. Aber das nur nebenbei. Schicken die Kinder zurück! muss er trotzdem noch einmal rufen, die Kinder! Trost schenke der ganzen weiten Welt nur der neue Papst, nicht umsonst heiße er ja Franziskus: Wo Barmherzigkeit und Klugheit sind, da ist nicht Verschwendung noch Täuschung! Und von Franziskus kommt der Anwalt geradenwegs auf die alten Römer zu sprechen: Tunc tua res agitur paries cum proximus ardet!, höchst zufrieden ist er, als Richard zustimmend nickt und prompt die Übersetzung murmelt: Wenn das Haus deines Nachbarn brennt, geht es auch dich an.