Schnell, das Wasser ist schon lau,
ruft die Menschenfresserfrau,
fasst ihn nur geschwind, geschwind,
ruft das Menschenfresserkind.
Das Menschenfresserkind hatte ihm auf den Bildern besonders gut gefallen: die Knöchelchen vom letzten Essen quer ins Haar gesteckt. Das Buch hatte seine Mutter wahrscheinlich irgendwann weggegeben, und später, als er als Erwachsener in Buchhandlungen danach fragte, erfuhr er, dass es das Buch zwar immer noch gab, inzwischen aber nur noch in einer politisch korrekten Neuauflage, mit einem Afrika ohne Menschenfresser, und dass die Originalfassung, wenn überhaupt, nur zu einem horrenden Preis antiquarisch zu bekommen war. Auch hier war dem Verbot also nichts weiter gelungen, als das Verbotene in ein besonders Begehrtes zu verwandeln. Indirekt sind die Wirkungen, nicht direkt, denkt er, so wie er es in den letzten Jahren bei unterschiedlichen Gelegenheiten schon oft gedacht hat. Das Buch» Negerliteratur «aber steht an der Stelle im Regal, wo es immer gestanden und auf ihn gewartet hat. Und richtig, der Titel ist von 1951. Er blättert und liest ein paar Zeilen. Die Erde ist rund und ganz von Sumpf umgeben, steht da. Dahinter ist das Land der Buschgeister. Unter der Erde ist immer nur Erde. Was dann kommt, weiß man nicht.
6
Als Richard die Schule im Berliner Bezirk Kreuzberg endlich gefunden hat, dämmert es schon. Eine Außenbeleuchtung gibt es auf dem ehemaligen Schulhof nicht, so dass er die schwarzen Gestalten, die ihm dort entgegenkommen, kaum von der nächtlichen Luft unterscheiden kann. Das Treppenhaus stinkt. Die Wände sind mit Farbe besprüht. Im ersten Stock blickt er durch eine offene Tür geradezu in die Herrentoilette, er geht hin und schaut, wie hier eine Herrentoilette aussieht: Von vier Abteilen sind drei mit rotweißen Klebestreifen versiegelt. Auf der anderen Seite ist alles leer, früher waren da vielleicht Duschen. Die Rohre sind abmontiert, nur die Fliesen noch übrig. Es stinkt grässlich. Er tritt wieder heraus. Niemand hier jetzt, kein Schwarzer, kein Weißer. An der Wand nur ein handgeschriebener Zetteclass="underline" Aula steht da, ein Pfeil zeigt nach oben. Von oben hört er jetzt auch Stimmen. Wahrscheinlich sind alle schon bei der Versammlung. Er ist etwas zu spät, hat sich auf dem Weg von der S-Bahn zur Schule zuerst verlaufen, weil er sich im Westen Berlins noch immer nicht auskennt. Der Senat lädt Anwohner und Flüchtlinge zur Beratung der Lage in die Aula der besetzten Kreuzberger Schule ein, hat er in der Zeitung gelesen. Und was macht er dann hier — der kein Anwohner ist und auch kein Flüchtling? Hat der Mauerfall ihm etwa nur die Freiheit gebracht, an Orte zu gehen, vor denen er Angst hat?
Die Aula ist voller Menschen, sie stehen, sie sitzen auf dem Fußboden, auf Stühlen, auf Tischen. Die Matratzen der Flüchtlinge sind an den Rand des Saals geschoben, ein paar Zelte sind mittendrin aufgestellt, festgeschraubt im Fischgrätparkett. Was ist hier außen, was innen? Auch die ehemalige Bühne der Aula ist mit Matratzen ausgelegt, eine dicht neben der anderen, der Theatervorhang hängt zwischen weißen korinthischen Säulen, er ist aufgezogen und gibt den Blick frei auf Schlafstätten, Decken, Bettzeug, Taschen und Schuhe. Liegt nicht hier und da sogar noch eine Gestalt unter den Decken und schläft? Richard ist sich nicht sicher. Habe nun, ach.
Gerade sagt jeder reihum seinen Namen und sagt, wer er ist und warum er hier ist. Und all das wird zweifach übersetzt. Richard hat in seinem Leben schon auf vielen Versammlungen gesessen, aber noch nie hat er so eine Versammlung erlebt.
Ich heiße, ich komme aus, ich bin hier, weil.
My name is, I come from, I’m here because.
Je m’appelle, je suis de, je suis ici.
An die 70 Menschen sagen, wer sie sind. Philosophie, /Juristerey und Medicin, /und leider auch Theologie! / Durchaus studirt, mit heißem Bemühn. An der Decke ist Stuck, ein Kronleuchter hängt in der Mitte, dunkles Holz an den Wänden. Vor noch gar nicht so langer Zeit war das hier ein Gymnasium.
Aus Mali, Äthiopien, Senegal. Aus Berlin.
From Mali, Ethiopia, Senegal. From Berlin.
De Mali, Éthiopie, Sénégal. De Berlin.
An den Fensterkreuzen sind ein paar Jacken und T-Shirts aufgehängt. Zum Trocknen vielleicht? Wo wäscht man eigentlich Wäsche in einer ehemaligen Schule? Auf der Bühne wurden vor noch gar nicht so langer Zeit Reden gehalten und Klavierstücke vorgespielt, wurden neu aufgenommene Schüler begrüßt und beste Abiturienten ausgezeichnet. Fanden Theateraufführungen statt. Wurde der Vorhang beiseite gezogen. Sah man Faust an seinem Schreibtisch sitzen. Und sehe, dass wir nichts wissen können! Tatsächlich, auch jetzt, während der Versammlung, liegen unter manchen der Decken Menschen und schlafen.