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Der lange Ithemba sitzt währenddessen sehr still daneben, er versteht kein Wort von dem, was die beiden alten Männer da reden, er weiß nicht, warum sie lachen, er muss einfach da sitzen und abwarten, ob es in seiner Angelegenheit irgendetwas zu tun oder zu bedenken gibt. Richard kann sehen, wie Ithemba angesichts der unzähligen Akten, die im Regal und auf den Tischen abgelegt sind, von Furcht ergriffen ist und nur deshalb so still sitzt. Hunderte bunter Klebezettel hängen den Akten aus den Mäulern heraus, auf hunderte existenzentscheidende besondere Umstände verweisend. Manchmal schon hat Ithemba gesagt, er habe einen Termin beim social, damit war das Sozialamt gemeint, oder bei Hausländer, damit war die Ausländerbehörde gemeint, aber es hat eine Weile gedauert, bis Richard begriff, dass allein die Erwähnung solcher Termine Ausdruck größten Entsetzens war. Ithemba, den zu kontrollieren keine Militärstreife an der Grenze zu Libyen sich erlaubt hat, der in glühender Hitze drei Tage zu Fuß durch die steinige Wüste gegangen ist, der am ersten Tag nach seiner Ankunft in Lampedusa gefordert hat, sofort zurückgebracht zu werden nach Libyen, nur leider war das den Italienern nicht möglich, Ithemba, der ein Glasauge hat und 1,90 Meter groß ist, wird von ein paar Buchstaben auf Amtspapier — rechts oben das Brandenburger Tor im Berliner Briefkopf, links unten ein Stempel mit Adler — in Schrecken versetzt.

Und dabei kann er noch froh sein, dass er nicht versteht, was ihm da jeweils mitgeteilt wird:

Falsche Angaben können zur Versagung des beantragten Aufenthaltstitels oder der Aussetzung der Abschiebung (Duldung) führen oder zur Ausweisung.

Nach den für die bewilligten Leistungen maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen sind Sie verpflichtet, alle Änderungen von Tatsachen, die für die Hilfegewährung maßgebend sind, unverzüglich mitzuteilen.

Ich mache darauf aufmerksam, dass die vorstehende Bescheinigung keine Ausreisefristverlängerung darstellt. Das bedeutet, dass Sie bei Vorliegen der Abschiebungsvoraussetzungen jederzeit — auch vor dem o.g. Vorsprachetermin — abgeschoben werden können. Im Falle unterlassener Ausreise kann gemäß § 82 Abs.4 S.1 AufenthG Ihr persönliches Erscheinen bei der Ausländerbehörde angeordnet werden. Leisten Sie dieser Anordnung ohne hinreichenden Grund keine Folge, kann die Vorführung zwangsweise erfolgen.

Während der Anwalt nun in der Akte herumblättert, sich hier und da etwas anstreicht, weitere gelbe, grüne und rosafarbene Klebezettel anbringt, in rasantem Tempo Briefe an verschiedene Behörden in sein Diktiergerät diktiert, warten Richard und Ithemba, nebeneinander sitzend, einfach nur ab. Ein deutsches Kind, ruft der Anwalt ihnen mittendrin plötzlich zu, wäre das einzige, was wirklich hilft! Ein deutsches Kind! Sieht er etwa nicht, dass da zwei Männer sitzen, einer noch dazu in fortgeschrittenem Alter? Dann blättert er weiter, diktiert: Werter Kollege, bitte beachten Sie, mit kollegialem Gruß und so weiter.

Aber eine Duldung zum Beispiel wäre doch auch schon etwas Gutes, oder? fragt Richard, als der Anwalt das Diktiergerät kurz ablegt. Dann könnten die Männer, habe er, Richard, gehört, doch zumindest nach neun Monaten anfangen, sich Arbeit zu suchen, sei es nicht so?

Nach neun Monaten! wiederholt der Anwalt und bricht wiederum in Gelächter aus.

Nein, sagt Richard, ich meinte jetzt die Duldung.

Ich weiß schon, ich weiß schon, sagt der Anwalt, blättert hier, blättert da, antwortet aber nicht.

Ich meinte, sie dürften sich dann Arbeit suchen, wiederholt Richard.

Suchen ja, sagt der Anwalt. Blättert hier, blättert da.

Und? fragt Richard.

Schon mal was von der Vorrang-Regelung gehört, sagt der Anwalt, hört jetzt abrupt auf zu blättern, blickt auf und schaut durch seine dicken Brillengläser hindurch Richard einen Moment lang scharf an. Er sieht wirklich aus wie ein Uhu.

Nein, sagt Richard.

Tja, die Vorrangregelung besagt, dass nur, wenn kein Deutscher und kein Europäer die Stelle haben möchte, dass nur dann zum Beispiel dieser Herr hier — der Uhu schaut in die Akte — Herr Awad überhaupt eine Chance hat.

Nun gut, sagt Richard, aber immerhin.

Ja, aber bevor er sich darum bewerben darf, muss auch noch die Ausländerbehörde ihm für diese eine bestimmte Stelle ihre Einwilligung geben.

Das wird sie doch in so einem Fall, sagt Richard.

Nun ja, sagt der Anwalt.

Was heißt das? fragt Richard.

Die Ausländerbehörde schickt die Bewerbung zunächst an die Arbeitsagentur mit der Bitte um Prüfung des Vorrangs. Diese Prüfung kann dauern. Warum, ja, das weiß kein Mensch zu sagen. Trifft die Antwort von der Arbeitsagentur schließlich ein, beginnt die Ausländerbehörde ihrerseits zu prüfen. Alles zusammen kann drei Monate dauern, auch vier Monate. Und die Entscheidung fällt nicht immer positiv aus.

Warum nicht?

Das müssen Sie die Damen und Herren von der Ausländerbehörde fragen.

Der lange Ithemba sitzt da und schweigt und schaut geradeaus, während die zwei alten Herren über seine Aussichten beraten. Dadurch, dass er ein Glasauge hat, sieht er die ganzen Aktenstapel, die hier herumliegen, wahrscheinlich nicht räumlich, denkt Richard.

Und selbst wenn die Behörde zustimmt, sagt der Anwalt, muss nach dem ganzen Procedere die Stelle noch immer verfügbar sein, da braucht es schon einen sehr geduldigen Arbeitgeber.

Verstehe, sagt Richard.

Richard sieht, dass die Holzfenster im Büro des Anwalts von der Hitze und Feuchtigkeit der letzten hundert Jahre schon sichtlich mürbe geworden sind. Die Wandfarbe ist bis hinauf in die Höhe von 4,20 Meter vergilbt, der Fußbodenbelag nur aus Linoleum. Als Richard kürzlich anrief, um zu fragen, ob er die Monatsrate für Ithemba für zwei Monate im voraus zahlen soll, hat die Sekretärin gesagt: Ach, lassen Sie mal, zahlen Sie erstmal nur eine. Eine Monatsrate sind 50 Euro, im Laufe von neun Monaten ergibt sich so die Gesamtsumme von 450 Euro, das Mindesthonorar für Asylverfahren nach Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RGV). Die Arbeitsauffassung dieses Anwalts hat, das ist an dem Zustand des Büros klar zu erkennen, mit Begriffen wie Kostendeckung oder gar Gewinn wenig zu tun.