Aber, sagt Richard, gibt es nicht die Kategorie der Engpassberufe? Er hat Raschid, dem Schlosser versprochen, den Anwalt danach zu fragen. Im Internet hat er gelesen, dass für diese in Deutschland dringend benötigten Facharbeiter im Falle einer Duldung Soforteinstellungen möglich seien.
Ja, sagt der Anwalt, aber da wiederum verlangt die Ausländerbehörde, dass derjenige sich zur Feststellung der Identität um einen Pass des Heimatlandes bemüht, oder wenigstens um eine Geburtsurkunde.
Und? fragt Richard.
Es kann sein, er bekommt den Pass.
Das ist doch dann gut, oder? fragt Richard.
Solange es keinen bilateralen Poker gibt, ja.
Was ist denn ein bilateraler Poker? fragt Richard und hört, wie der große Ithemba unter dem Tisch an seinen Fingern zieht, dass die Knöchelchen knacken.
Manchmal will die Regierung eines solchen Landes eine politische Vergünstigung von Deutschland, ein Handelsabkommen, manchmal auch Waffen. Im Gegenzug verpflichtet sie sich, Leute, die in Deutschland nur geduldet sind, aber einen Pass ihres Heimatlandes besitzen, zurückzunehmen.
Also Deutschland ist sozusagen froh, wenn es wenigstens die Facharbeiter auf diese Weise loswerden kann, verstehe ich das richtig? sagt Richard.
So könnte man sagen, sagt der Anwalt.
Was sagt er? fragt nun auch Ithemba.
Ich erklär es dir später, sagt Richard.
Sie dürfen auch nicht vergessen, sagt nun der Anwalt, diese Herren hier vom Oranienplatz haben noch nicht einmal eine Duldung, und selbst wenn sie eine hätten: So eine Duldung ist kein Aufenthaltsstatus.
Sondern was?
Eine Duldung ist nur eine Aussetzung der Abschiebung. Der Anwalt spricht diese Bezeichnung so genussvoll aus, wie Yussuf damals das Wort Tellerwäscher.
Richard merkt, wie er Kopfschmerzen bekommt, die sich von der Stirn über die Schläfen allmählich in seinen Hinterkopf fressen. Aber ein letzter Punkt steht noch auf seiner Liste:
Und der Paragraph 23? fragt er. Im Internet habe er gelesen, dass, wenn ein Land, eine Regierung, ein Bürgermeister nur wolle, die europäischen Regelungen ausgesetzt werden dürften und jemand, der um Asyl ansuche, einfach als Mensch akzeptiert werden könne, auch in einem Land, das nach den gesetzlichen Regelungen eigentlich nicht für ihn zuständig sei.
Es wundert Richard nicht sonderlich, dass der Anwalt darauf nur ein Wort zur Antwort gibt:
Wenn.
Verstehe, sagt Richard und hat plötzlich das Gefühl, dass dieser Anwaltsbesuch seine Kräfte übersteigt.
Haben Sie denn die Erklärung des Senats nicht gelesen, sagt nun der Anwalt milde zu ihm, wie zu einem Kranken, dem man gut zureden muss, damit er die bittere Medizin schluckt.
Welche Erklärung denn?
Gestern stand es doch in allen Zeitungen, sagt der Anwalt und zitiert auswendig:
Aus Gründen der Vollständigkeit ist noch anzumerken, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz für die Teilnehmer an der Protestbewegung am Oranienplatz nicht der Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik dient.
Nein, das habe ich nicht gelesen, sagt Richard.
Schauen Sie, sagt nun der Uhu: Die geschriebenen Gesetze treten, je höher entwickelt eine Gesellschaft ist, an die Stelle des common sense. In Deutschland sind es nach meiner Einschätzung nur noch zwei Drittel aller Gesetze, die im Gefühlsleben des Volkes, wenn ich das einmal so ausdrücken darf, verankert sind. Ein Drittel sind bereits so hochentwickelte, reine Gesetze, so sauber formuliert, dass die gefühlsmäßige Grundlage überflüssig geworden und praktisch nicht mehr existent ist. Vor 2000 Jahren waren die Germanen das gastfreundlichste Volk, das es gab. Sie kennen doch sicher den schönen Abschnitt in Tacitus’»Germania«über die Gastfreundschaft unserer Vorfahren?
Ja, sagt Richard und nickt.
Wenn ich Ihnen die Passage kurz noch einmal in Erinnerung rufen darf?
Sie dürfen.
Der Anwalt steht auf, geht zu seinem Bücherregal, die Rockschöße wehen im unerklärlichen Bürowind, zieht den Tacitus aus dem Regal und schlägt das kleine Buch an einer Stelle, an der ein Zettel eingelegt ist, auf.
Ithemba, der merkt, dass das Gespräch mit dem Anwalt sich dem Ende zuneigt, sammelt vorsichtig seine Papiere zusammen, schiebt sie sorgfältig übereinander und steckt sie zurück in die Mappe, die er extra dafür mitgebracht hat. Richard nickt ihm zu. Und nun beginnt der Anwalt zu rezitieren: Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; jeder empfängt ihn mit einem seinen wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend reich zubereiteten Mahle. Sind die Vorräte aufgezehrt, dann weist der, der eben noch Gastgeber gewesen war, den Weg zu einem anderen gastlichen Hause und geht selbst mit, uneingeladen betreten sie den nächsten Hof: und der Empfang ist nicht weniger herzlich. Im Gastrecht macht keiner einen Unterschied zwischen Bekannten und Unbekannten. Zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied von mein und sein. Der Anwalt klappt das Buch wieder zu und fragt Richard: Und jetzt?
Und jetzt? fragt Richard mit einem Anflug von Hoffnung zurück.
Jetzt, 2000 Jahre später, gibt es dafür den Paragraphen 23, Absatz 1, Aufenthaltsgesetz.
Der Anwalt legt, als hätte er eine kleine Theatervorstellung gegeben, die Hand auf sein Herz und verbeugt sich. Dann macht er die Flügeltür auf und sagt: Sie erlauben? um anzudeuten, dass die Sprechstunde vorbei sei. Richard weiß ja selbst, wie viele Rumänen, Vietnamesen und Afrikaner noch draußen warten. Als er mit Ithemba an der Garderobe vorbeigeht, auf deren Hutablage wahrhaftig ein Zylinder liegt, hegt er kaum noch einen Zweifel daran, dass dieser, ihn irgendwie an einen Uhu erinnernde Anwalt aus dem vorvorigen Jahrhundert herübergeflattert sein muss ins einundzwanzigste — dieses neue, und trotzdem schon so alte Jahrhundert mit seinen nicht endenwollenden Strömen von Menschen, die, nachdem sie die Überfahrt über ein wirkliches Meer überlebt haben, nun in Flüssen und Meeren aus Akten ertrinken.
52
Und dann kommt der Tag, an dem Richard nach Frankfurt am Main fährt. Am Vormittag hat er, während Osarobo Klavier geübt hat, den Vortrag ausgedruckt und Korrektur gelesen und das Manuskript Osarobo gezeigt, obwohl der es natürlich auf Deutsch nicht lesen kann.
This is for a newspaper?
Nein, es ist ein Vortrag, ich lese ihn vor.
Leute kommen her?
Nein, ich fahre heute abend nach Frankfurt am Main. Ich bin eingeladen und lese ihnen dort den Vortrag vor.
Und dann?
Dann reden wir drüber.
Aha.
Kennst du Frankfurt am Main?
Nein. Nur Würzburg.
Aus Würzburg, erinnert sich Richard, sind die ersten Flüchtlinge vor zwei Jahren auf den Oranienplatz gekommen. Schon bevor sie losmarschierten, hatten sie Schlagzeilen gemacht, weil einige von ihnen sich den Mund zunähten, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Unwillkürlich schaut er, ob Osarobo Narben hat, aber sein Mund sieht normal aus.
Übermorgen bin ich schon wieder da, sagt Richard.
Gut, sagt Osarobo.
Wollen wir noch einen Tee zusammen trinken?
Okay.
Und so sitzen sie zum ersten Mal in der Küche bei einem Tee.
Einen Tag später steht Richard in einem Tagungssaal in Frankfurt am Main an einem Stehpult und hält vor einer Runde aus Altphilologen seinen Vortrag über» Die Vernunft als feurige Materie im Werk des Stoikers Seneca«. Er spricht aber nicht nur über Vernunft, sondern auch über Erinnerung, und über Macht und Ohnmacht. Er weiß nicht genau, ob das so ein Vortrag ist, wie er ihn früher, als er noch am Institut war, gehalten hat. In der Pause gibt es im Vorraum Kaffee aus großen Thermoskannen, auch Orangensaft, Mineralwasser und ein paar Kekse.