Der Tacitus-Spezialist ist diesmal leider nicht da, aber einige andere, die Richard kennt, sie begrüßen ihn, klopfen ihm auf die Schulter: Na, was machst du denn jetzt so — als Rentier? Ach, Sie sind nicht mehr im Institut? Wie lange haben wir uns jetzt schon nicht mehr gesehen? Also, ich fliege ja nächste Woche rüber nach Boston. Der Sowieso, das ist ein außerordentlich interessanter Mann. Haben Sie schon gesehen, es gibt eine Neuübersetzung von. Keiner sagt ein Wort zu seinem Vortrag. Richard weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Drei Frauen sind unter den Forschern, darunter eine mit rasant hohen Absätzen, aber mit der kommt er nicht ins Gespräch, im übrigen sind alle so, wie Menschen auf solchen Tagungen nun einmal sind: klug, dumm, schrullig, ehrgeizig, schüchtern, von ihrem Fach besessen, eitel. Als die anderen zu ihrem Hotel zurückgehen, um sich auszuruhen, bevor sie sich etwas später zum Dinner treffen, trägt er seine kleine Tasche schon wieder zum Bahnhof und steigt in den Zug. Und als die andern im Einzelzimmer ihres Frankfurter Hotels den Kopf auf ein Hotelkissen legen, hat er schon längst sein Auto in der Parkgarage des Berliner Hauptbahnhofs gefunden, ist in die Vorstadt zurückgefahren und geht nun durch das Dunkel zwischen den Bäumen zu seinem Haus hin. Als er das Haus betritt, ist es sehr kalt. Hat er irgendwo ein Fenster offen gelassen — jetzt, mitten im Winter?
Die Schubladen seines Schreibtischs sind herausgezogen und auf dem Fußboden kreuz und quer übereinandergestellt. Papiere und Fotos liegen herum, das hölzerne Gehäuse einer alten Spieluhr ist beim gewaltsamen Öffnen zerbrochen. Von einem Zimmer geht Richard zum nächsten, hier ist auf dem Teppich englisches Geld ausgeschüttet, das Portemonnaie liegt daneben, dort steht eine Schranktür sperrangelweit offen, oben im Schlafzimmer liegt der Modeschmuck seiner Frau auf dem Boden, im Bad ist der Karton, in dem er die Medizin aufbewahrt, ins Waschbecken ausgeleert, und ganz zuletzt, als er wieder herunterkommt und sich fragt, von wo es nun eigentlich so kalt hereinzieht, sieht Richard im Musikzimmer das aus dem Rahmen herausgebrochene Fenster. Er schließt das Musikzimmer hinter sich ab, geht dann in den Keller und auch noch einmal durch die untere Etage, um sich zu vergewissern, dass er wirklich allein im Haus ist. Der Computer, den man leicht hätte mitnehmen können, und auch der Fernseher sind noch da, immerhin. Richard lässt alles so liegen, wie es nun einmal da liegt, und geht nach oben. Im Bett, als er das Licht schon ausgemacht hat, versucht er einen Moment lang, sich vorzustellen, wie die Zimmer wohl aussehen mögen, wenn man sie nur mit einer Taschenlampe beleuchtet. Wahrscheinlich wie eine unübersichtliche Landschaft, in der das, was im Dunkel bleibt, feindselig wirkt, auch wenn es nur ein paar Stühle sein mögen, ein Bücherstapel, eine Zimmerpflanze, ein Jackett auf einem Bügel. Ist er neulich nicht selbst nachts durch sein dunkles Haus gestrichen?
Am nächsten Morgen kommen zwei Mann von der Spurensicherung und pinseln die Dinge, die der Dieb angefasst haben muss, schwarz an. Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer es gewesen sein könnte? Nein. Na, es hätte viel schlimmer ausgehen können, Sie hatten Glück. Ach so? Ja, manchmal reißt so ein Einbrecher wirklich alles aus den Regalen, die Anziehsachen, die Bücher. Die englischen Pfund hat er offenbar nicht gebrauchen können. Und dass der Computer noch da ist. Ja, sagt der andere Polizist, da ist mit Respekt eingebrochen worden, das sieht man. Respekt? fragt Richard. Naja, sozusagen. Sehen Sie in den nächsten Tagen alles in Ruhe durch, stellen Sie fest, was fehlt, hier ist das Formular, das brauchen Sie für die Versicherung.
Etwas später kommt der Reparaturdienst, der das Fenster, dessen Glas unzerbrochen geblieben ist, wieder fest in den Rahmen hineinschraubt. Das hält erst einmal, da müssen Sie keine Angst haben. Ich habe keine Angst, sagt Richard.
Am frühen Nachmittag erst ruft er Detlef und Sylvia an, um zu erzählen, was ihm passiert ist. Ach, sagt Detlef, das ist ja wirklich nicht schön, aber gut, dass du gerade in der Nacht nicht da warst, was ist denn gestohlen worden? Auf einen Blick hat Richard, als er vorhin den übriggebliebenen, billigen Schmuck vom Boden aufgesammelt hat, gesehen, was fehlt: Der Ring seiner Mutter, das einzige Schmuckstück, das sie auf der Flucht von Schlesien nach Berlin mitgenommen hat, als Kind hat er den schwarzen Opal manchmal ins Licht gehalten, weil dann die im Stein eingeschlossenen roten und grünen Linien aufblitzten. Anlässlich der Hochzeit hatte seine Mutter diesen Ring Christel als Erbstück geschenkt, aber die hatte ihn nie getragen: Der ist unpraktisch, damit bleibt man überall hängen. Verschwunden ist auch der goldene Armreif, den er seiner Frau einmal aus Usbekistan mitgebracht hat, und ein Ring, den sie vom Zahnarzt Krause, ihrem Liebhaber vor seiner Zeit, einmal geschenkt bekommen hat — mit einem Saphir in der Mitte, ringsherum kleine Brillanten.
Zahnarzt Krause ist ja Ende letzten Jahres gestorben.
Den Umschlag, in dem Richard immer einige Hunderter aufbewahrt, damit er nicht dauernd zur Bank fahren muss, hat der Dieb nicht gefunden, er liegt noch immer im Kleiderschrank zwischen den Socken.
Komm doch vorbei, sagt Detlef.
Wusste denn irgendwer, dass du genau in dieser Nacht nicht in deinem Haus bist? Ja, sagt Richard. Einer von deinen Afrikanern? fragt Sylvia. Ja, sagt Richard. Welcher denn? Der Klavierspieler. Das wäre schade, sagt Sylvia. Aber es ist überhaupt nicht gesagt, dass es der sein muss, sagt Detlef, es gibt so viele Einbrüche hier in der Gegend. Bei den Nachbarn da drüben, weißt du noch, haben sie letztes Jahr das ganze Werkzeug aus dem Schuppen geklaut — und wer war es? Der Neffe von Ralf. Ralf ist der Vorsitzende des Anglerverbands. Ja, sagt Sylvia, auch bei Claudia, der Apothekerin, wurde eingebrochen, als sie über Weihnachten fortgefahren sind, hat sie mir neulich erzählt. Richard nickt manchmal, sagt manchmal Ja oder Nein, trinkt zwei Gläser Whiskey und geht dann wieder nach Hause.
Am nächsten Vormittag ruft er Anne an, von der er seit Jahresbeginn nichts mehr gehört hat.
Sylvia hat mir erzählt, was passiert ist, sagt sie. Schau mal, sagt sie, Ali hätte doch, als er bei uns gewohnt hat, im Prinzip alles mögliche stehlen können. Er hätte mich auch erschlagen können. Oder meine Mutter. Aber stattdessen wollte er nicht einmal, dass ich ihm am Ende mehr Geld gebe, als ausgemacht war.
Hattest du etwas mit ihm?
Anne lacht auf: Er ist dreiundzwanzig!
Richard hat tatsächlich einen Moment lang vergessen, dass Anne so alt ist wie er, hat einen Moment lang auch sein eigenes Alter vergessen. Ist es wirklich schon fünfzig Jahre her, dass er mit einer splitternackten Anne auf dem Fußboden irgendeines Landhauses lag und ihre Frisur so durcheinander geraten war, dass sie sagte: Jetzt hab ich ein Vogelnest auf dem Kopf?
Du musst einfach herauszufinden versuchen, ob es dein Klavierspieler war.
Er hat immer nach Arbeit gefragt, sagt Richard. Er weiß wahrscheinlich nicht, wovon er sonst leben soll.
Du denkst also, dass er es war. Du verurteilst ihn, ohne dass er eine Chance hatte, sich zu äußern. Das ist nicht schön.
Was wäre denn schön?
Frag ihn, ob er es war.
Und wenn ja?
Du sagst doch, der Dieb hat den Ring deiner Mutter genommen.
Ja.
Das ist doch schlimm.
Naja. Aber letztendlich hätte ich ohnehin nicht gewusst, was mit dem Schmuck später wird.
Richard, deine Entschuldigungen kannst du dir sonstwohin stecken.
Richard hört, dass Anne, wie immer, beim Telefonieren abwäscht. Das Telefon hat sie bestimmt zwischen Ohr und Schulter geklemmt und ab und zu pustet sie, weil sie nasse Hände hat, eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fällt, beiseite, damit sie ihr beim Sprechen nicht in den Mund rutscht. Das Pusten kann er hören und auch das Geräusch, das der Wasserstrahl macht.
Wenn wirklich er es gewesen sein sollte, der dir den Ring geklaut hat, dann schrei ihn an! Sag ihm, dass du, verdammt nochmal, den Ring zurückhaben willst! Mach ihm eine Szene!