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Aber warum?

Weil du ihn ernst nehmen musst. Wenn du seinen Verrat entschuldigst, bist und bleibst du der großkotzige Europäer.

Warum eigentlich hatte sich vor fünfzig Jahren weder für Anne noch für ihn die Frage gestellt, ob sie ein Paar sein sollten?

Dann müsste ich also, wenn er es gewesen wäre, doch Anzeige erstatten?

Aber nein, sagt Anne, geduldig wie zu einem sehr dummen Kind, das hat doch mit der Polizei nicht das Geringste zu tun. Es geht darum, dass dir nicht egal ist, was er tut.

Verstehe.

Dann tritt für einen Moment Stille ein.

Richard, bist du noch dran?

Sag mal, sagt Richard, warum sind wir eigentlich nie zusammen gekommen?

Bist du betrunken?

Nachdem er aufgelegt hat, schickt Richard Osarobo eine Nachricht, so wie er es sonst auch manchmal gemacht hat:

Tomorrow?

Okay, schreibt Osarobo zurück.

At 2 p.m.?

Okay.

Richard wischt nun all die Dinge, die die Polizei schwarz gepinselt hat, mit Gummihandschuhen ab, stellt alles wieder an seinen Platz, schiebt die Schubladen in die Fächer zurück und lässt im Musikzimmer das Rollo herunter, so dass man die Stellen am Fensterrahmen, die herausgebrochen sind, nicht sieht.

Den Rest des Tages verbringt er vor seinem Computer. In die Zeile, in die man einen Suchbegriff eingeben kann, tippt er ein, was ihm gerade so in den Sinn kommt:

Wahrscheinlichkeit

Die Wahrscheinlichkeit (Probabilität) ist eine Einstufung von Aussagen und Urteilen nach dem Grad der Gewissheit (Sicherheit). Besondere Bedeutung hat dabei die Gewissheit von Vorhersagen.

Gewissheit

Der Ausdruck Gewissheit bezeichnet alltagssprachlich meist die subjektive Sicherheit bezüglich bestimmter, für gut gerechtfertigt gehaltener Überzeugungen, die sich z. B. auf natürliche oder moralische Sachverhalte beziehen können. Außerdem wird diskutiert, welche Elemente welche Rolle für das Zustandekommen subjektiver Gewissheit spielen, darunter etwa» Beweise«, Verlässlichkeit von» Expertenmeinungen«, äußere Umstände wie Häufigkeit der gebrachten Argumente oder innere Modalitäten wie emotionale Stabilität.

Schrödingers Katze

Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Maschine: In einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, dass im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses System eine ganze Stunde sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, dass die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben.

Katzenzustand

In einem allgemeineren Sinn wird in der Quantenmechanik eine Überlagerung zweier kohärenter Zustände, die hinreichend unterschiedlich und klassischen Zuständen ähnlich sind, als Katzenzustand bezeichnet. Um einen solchen Zustand zu präparieren, ist es nötig, das System von der Umgebung abzuschirmen.

Quantenselbstmord

Ein Wissenschaftler sitzt vor einem Geschütz, das abgefeuert wird, wenn ein spezielles radioaktives Atom zerfallen ist. In diesem Fall stirbt der Wissenschaftler.

Quantenunsterblichkeit

Nach der Viele-Welten-Interpretation wird in unterschiedlichen Paralleluniversen das Abfeuern in einer unterschiedlichen Zeit erfolgen, so dass die Möglichkeit, dass der Wissenschaftler überlebt, häufiger erfüllt wird als die seines Sterbens. In der Gesamtheit der Systeme betrachtet, stirbt der Wissenschaftler daher durch das Experiment nicht, da die Wahrscheinlichkeit für das Überleben nie gleich Null ist, und er somit in irgendeinem Universum immer überlebt. So betrachtet, ist der Wissenschaftler unsterblich.

Am nächsten Vormittag kommt ein Handwerker von einer Fensterfirma, um für ein neues Fenster Maß zu nehmen.

Um 2 p.m. wartet Richard, dass es klingelt, aber es klingelt nicht.

Um 2.30 p.m. schaut er auf sein Telefon und sieht, dass er eine Nachricht hat:

I can’t make it today.

Außerdem sieht er noch etwas anderes. Osarobo hat sein Profilbild geändert. Statt eines Fotos von ihm ist da nun ein Aquarell in Hellblau, Rosa und Lindgrün, auf dem sieht man einen segnenden Jesus, neben sich einen knienden Sünder, der den Kopf geneigt hält, um sich absolutieren zu lassen. Oder ist der Kniende einfach nur jemand, der betet?

I can’t make it today.

Abends um 7 Uhr kommt Andreas, der Hölderlinleser, der endlich von seiner Kur zurück ist, zu Richard zu Besuch. Eigentlich wollten sie zusammen einen Film sehen. Jetzt sitzen sie in der Küche und trinken Bier.

Das Problem ist, man kann nicht wissen, ob er es war, sagt Richard.

So wachsen ja des Waldes Eichen auch /Und keines kennt, so alt sie sind, das andre, gibt Andreas ihm zur Antwort.

Kennst du Schrödingers Katze?

Die, die ins Fegefeuer gesperrt ist?

Ja, genau die. Für ihren Tod gilt eine Wahrscheinlichkeit von 50 zu 50. Meinst du, dass es mein Klavierspieler war?

Ich kann’s dir nicht sagen.

Vor zwei Tagen habe ich noch hier mit ihm gesessen, so wie jetzt mit dir. Wir haben zum ersten Mal Tee zusammen getrunken.

Andreas nickt. Richard nimmt einen Schluck aus seiner Flasche, und auch Andreas nimmt einen Schluck.

Wir haben Tee getrunken, und ich habe gedacht, dass es das erste Mal ist, und er hat vielleicht gedacht, dass es das letzte Mal ist.

Andreas nickt.

Vielleicht, sagt Richard. Aber vielleicht eben auch nicht.

Ich bin gestern zum ersten Mal wieder mit dem Fahrrad gefahren, sagt Andreas. Hab auch nicht gedacht, dass ich das nochmal kann.

Richard nickt: Es geht hin und her, und hin und her, und irgendwann nur noch hin, aber man weiß nie, wann das ist. Jetzt ist mir auch klar, sagt er, warum das Wellenfunktion heißt. Und den Tod nennen sie einfach: Kollaps der Wellenfunktion.

Kollaps der Wellenfunktion, sagt Andreas, das könnte von Hölderlin sein.

Die Katze, sagt Richard, wird wissen, ob sie tot ist oder lebendig.

Sollte man annehmen, sagt Andreas.

Aber Schrödinger sagt, bis man den Kasten aufmacht, ist sie beides: tot und lebendig. Kannst du das verstehen?

Andreas nimmt einen Schluck Bier.

Richard fällt die Spieluhr ein, deren hölzernes Gehäuse der Einbrecher, wer auch immer es gewesen sein mag, auf seiner Suche nach Geld zerbrochen hat. Ob er wohl enttäuscht war, als er drinnen nur die blecherne Scheibe mit den umgebogenen Zacken gesehen hat, die, wenn man sie mit der Kurbel in Gang setzt, die Arie des Herzogs aus Rigoletto spielt: La donna è mobile?

Die Dinge, sagt Richard, existieren doch unabhängig davon, ob einer den Kasten aufmacht.

Naja, sagt Andreas, woher willst du das wissen?

Richard sieht jetzt sehr unzufrieden aus.

Verstehe, sagt er und nimmt einen Schluck. Seine Frau hat am Schluss ihres Lebens immer Chantré getrunken, weil das billiger war.

In der Kur, sagt Andreas, bin ich am Meer spazieren gegangen. Da gab’s nie einen Kollaps der Wellenfunktion.

Noch zwei Versuche unternimmt Richard, sich mit Osarobo zu treffen.

Einmal schlägt er ihm vor, in den Bäckerladen zu gehen, in dem sie beim ersten Treffen versucht haben, sich zu unterhalten. Osarobo sagt ja, aber dann sitzt Richard allein vor einem Pfefferminztee und liest wieder: Sorry, I can’t make it today. Die Verkäuferin schaut von oben auf ihn herab und sagt: Das macht 2,80 Euro.