Выбрать главу

Am Abend sieht er: Osarobo hat ein neues Profilfoto eingestellt. Ein Gemälde, auf dem Daniel in der Löwengrube zu sehen ist. Mit gefesselten Händen steht er vor den Löwen, die nicht wagen, ihn aufzufressen. If God is for us who can be against us?

Beim letzten Versuch schreibt Richard:

Wenn du mir etwas sagen willst — ich warte morgen auf dich am Alex. Weltzeituhr 3 p.m.

Okay — see you tomorrow.

Richard fährt mit der S-Bahn in die Stadt und hofft, dass die Mühe, die es ihm macht, Osarobo am Alex zu treffen, irgendetwas bewirkt. Aber um 5 Minuten nach 3 schreibt Osarobo:

Bin ich home now, is snowing.

Ja, es schneit tatsächlich. Richard steht mit dem Mobiltelefon, auf dem er die Entschuldigung liest, unter der Weltzeituhr, an der er sich schon als Jugendlicher oft verabredet hat. Magadan, Dubai, Honolulu. Wie spät mag es jetzt wohl in Niamey sein, der Hauptstadt von Niger?

Bis zu Hause schafft er es noch, sich zusammenzureißen, aber dann sitzt er am Schreibtisch vor dem dunklen Computerbildschirm. Die Seele von Osarobo, das weiß er, fliegt jetzt ins Universum hinaus, irgendwohin, wo es keine Regeln mehr gibt, wo man auf niemanden Rücksicht nehmen muss, aber dafür auch für immer und ganz und gar und unumkehrbar allein ist. Auf der Erde aber bleibt er, Richard, mit solchen Leuten wie Monika und dem schnurrbärtigen Jörg zurück. So wie die Löwen auf Osarobos Profilbild sieht er die schon ihre Zähne fletschen: Das hätten wir dir gleich sagen können! Richard weint, wie er seit dem Tod seiner Frau nie mehr geweint hat.

Oder war Osarobo es doch nicht?

53

Die Geister, sagt Karon, kämen nur bis an Italiens Küste mit. Sie setzten nicht nach Europa über. Unmittelbar nach seiner Ankunft auf Lampedusa habe er noch drei Träume gehabt, und danach nie wieder. Die Geister forderten auch ihren Tribut bei der Überfahrt. Deswegen habe es keinen Sinn, jemanden, der bei der Überfahrt den Verstand verliere, daran zu hindern, sich ins Wasser zu stürzen. Einmal nur, sagt Karon, sei ein Wunder passiert. Da sei ein Mann vom Boot ins Wasser gefallen, der Kapitän habe, um keine Zeit zu verlieren, nicht umkehren wollen, habe aber zumindest für einen Moment den Motor abgestellt. Einige hätten den Namen des Mannes gerufen, alle hätten sie Ausschau gehalten, ob der Mann sich vielleicht noch irgendwo über Wasser halte, aber der sei nicht mehr zu sehen gewesen. Dann sei einen Moment Stille eingetreten, und das Meer sei ganz ruhig geworden und habe ganz spiegelglatt ausgesehen, und plötzlich seien zwei Delphine angeschwommen gekommen, eng nebeneinander, und hätten zwischen sich den Ohnmächtigen getragen und ihn zum Boot zurückgebracht, so dass die anderen Passagiere ihn hätten hinaufziehen können, der Mann sei dann wieder zu sich gekommen. Ein Wunder. Wenig später, als der Motor plötzlich kaputtging, sei genau dieser Mann der Einzige gewesen, der sich mit Booten ausgekannt habe und den Motor habe reparieren können.

Sonst wären wir alle gestorben, sagt Karon.

Karon war plötzlich wie aus dem Nichts im dichtesten Schneegestöber vor Richards Schreibtischfenster erschienen und hatte kurz darauf an die Terrassentür geklopft. Nun sitzen sie, jeder mit einem Glas heißer Zitrone, am Wohnzimmertisch.

Richard sagt: Beinahe hätte ich es vergessen — dein Freund hat mir ein Foto von deiner Familie geschickt.

Auf dem gleichen Weg wie zuvor die Bilder vom Grundstück und vom Kaufvertrag ist just gestern ein Bild von Karons Mutter, seinen zwei jüngeren Brüdern und der halbwüchsigen Schwester in Richards Telefon angelangt. Die beiden Frauen tragen Kleider in leuchtenden Farben, die Mutter ein dunkel-violettes, das bis zum Boden reicht, sie sieht ernst und schmal aus. Die Schwester schaut nicht in die Kamera — aus Scham? Oder aus Stolz? So eine Schwester, denkt Richard.

Wie heißt sie? fragt er und zeigt auf die junge Frau.

Salá Matú, sagt Karon.

Verglichen mit den beiden Frauen sehen die Brüder von Karon, die in der Mitte stehen, armselig aus. Sie tragen T-Shirts und zerlöcherte Hosen. Die linke Schulter des größeren Bruders ist höher als die Rechte, vielleicht ist er verwachsen. Auf dem T-Shirt des Jüngeren steht Kalahari, und da die Kalahari-Wüste von dem Ort, in dem Karons Familie wohnt, ungefähr so weit entfernt ist wie Barcelona von Minsk, hält Richard es für wenig wahrscheinlich, dass das T-Shirt auf dem Weg quer durch Afrika an den Bruder gekommen ist, wahrscheinlicher ist, dass es aus der Kleidersammlung stammt und den Umweg zum Beispiel über Hannover, Freiburg oder Berlin-Charlottenburg genommen hat. Karons Mutter und seine drei Geschwister stehen da unter dem Vordach eines grauen gemauerten Hauses, das zwei Türen hat, die schief in den Angeln hängen, aber kein Fenster.

Karon sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa, hält Richards Telefon in der Hand und sieht lange, lange das Foto an, während draußen die Schneeflocken fallen. In den Kugeln, die man schütteln muss, um ein Schneegestöber zu erzeugen, ist es genau umgekehrt, denkt Richard, da ist unter der Glasglocke der Winter.

Den Pfosten da, sagt Karon und zeigt auf einen der Pfosten, mit denen das Vordach abgestützt ist, den Pfosten da habe ich selbst repariert. Ich erinnere mich noch daran.

Und es stimmt, Richard sieht es jetzt auch, der Pfosten wird an einer Stelle, an der er gebrochen war, von einer Schiene stabil gehalten. Es ist eine kümmerliche Reparatur, aber sie fand in einer Gegenwart statt, die für Karons Familie andauert, nur für ihn selbst unerreichbar geworden ist.

Karon zeigt auf die Schwelle, die unter das Vordach führt: In der Regenzeit gibt es so viel Wasser, deswegen stehen die Häuser erhöht. Das Haus hat drei Zimmer, aber in der Regenzeit kann man nur eins bewohnen, die anderen beiden haben kein Dach, die sind dann überschwemmt. Mein Vater hat es vor seinem Tod nicht mehr geschafft hat, das Haus fertig zu bauen.

Wie wurden denn früher die Häuser gebaut?

Aus Lehm. Aber wenn der Lehm Risse bekommt, kriechen die Schlangen herein, das ist gefährlich. Und wenn man die Risse zuschmiert, hält das nicht lange. Und die Dächer waren früher aus Schilf oder Palmblättern, aber da muss nur jemand ein Streichholz dran halten, dann brennt das Haus ab.

Wieso sollte denn jemand ein Streichholz dran halten?

Man weiß nie.

Und jetzt haben die Häuser Dächer aus Ziegeln?

Nein, aus Blech. Aber das ist so leicht, und wenn in der Regenzeit die starken Stürme losgehen, haben wir oft alle in der Stube gestanden und an Seilen von innen das Dach festgehalten. Wir mussten uns alle fünf richtig dranhängen. Wenn die Stürme losgingen, hatten wir immer Angst. Draußen: weil dann alles umherfliegt. Und drinnen: dass das Dach abgehoben wird und uns mitreißt.

54

Anfang Februar treffen für alle Männer der Oranienplatz-Gruppe, die in Deutschland nie einen Asylantrag gestellt haben, aber trotzdem da sind, die Briefe von der Ausländerbehörde ein. Einzelfall für Einzelfall ist nun geprüft und entschieden. Es hat sich herausgestellt, was man auch bei der Räumung des Platzes im Herbst letzten Jahres schon wusste: dass nur Italien für die Männer, die in Italien angekommen sind, zuständig ist.

Ali aus dem Tschad, der bei Annes Mutter als Pfleger gearbeitet hat, muss gehen.

Khalil, der nicht weiß, wo seine Eltern sind und ob sie noch leben, muss gehen.

Zani, der mit dem kaputten Auge, der die Artikel über das Massaker in seiner Heimatstadt zusammengetragen hat, muss gehen.

Yussuf aus Mali, der Tellerwäscher, der Ingenieur werden will, muss gehen.

Hermes, der mit den goldenen Schuhen, muss gehen.

Abdusalam, der Sänger mit dem Silberblick, muss gehen.

Mohamed, der die Hose aus modischen Gründen bis unter die Pobacken rutschen lässt, muss gehen.

Yaya, der den Klingeldraht durchgeschnitten hat, um den Probealarm zu beenden, muss gehen.