Würden sich manche Spuren einfach verlieren?
Erst jetzt fällt Richard auf, dass sein Blick auf den See sich mit der Erinnerung daran, dass in diesem See letzten Sommer ein Mensch gestorben ist, unauflöslich verbunden hat. Der See wird für immer der See bleiben, in dem jemand gestorben ist, und dennoch für immer auch ein sehr schöner See sein: über dem an den Morgen Nebel steht, durch dessen Wasser im Frühling ein Entenpaar mit ein paar Küken seine Bahn zieht, in dem das frische Schilf Jahr für Jahr die braungewordenen Halme verdrängt, ein See, an dessen Ufer Libellen schlüpfen, an dessen sandigem Grund Muscheln liegen, ein See mit Algen, zwischen denen die Fische spazierenschwimmen, als sei das Grünzeug ein Wald, ein in der Sonne gleißender See, in Gewittern schwärzlicher See, und Winter für Winter ein gefrorener, manchmal verschneiter See, der dann so weiß ist wie ein Blatt Papier. Vielleicht wird Richard im Sommer wieder hier schwimmen, auf jeden Fall wird er, so wie in den vergangenen zwanzig Jahren, am Ufer sitzen und glücklich sein, das Wasser zu sehen. Raschid hat Richard in einem der Gespräche gesagt, nicht einmal die Erinnerung an das schöne Leben mit seiner Familie sei ihm ein Trost, weil diese Erinnerung nur mit dem Schmerz über den Verlust verbunden sei, und nichts außerdem da sei. Am liebsten würde er die Erinnerung von sich abschneiden, hatte Raschid gesagt. Cut. Cut. Ein Leben, in dem eine leere Gegenwart besetzt ist von einer Erinnerung, die man nicht aushält, und dessen Zukunft sich nicht zeigen will, muss sehr anstrengend sein, denkt Richard, denn da ist, wenn man so will, nirgends ein Ufer.
Richard deckt den Kartoffelsalat mit einer Folie ab und bringt ihn nach draußen.
Bevor die Gäste eintreffen, gibt es noch viel zu tun: Moussa mäht Rasen, Mohamed und Khalil rechen Blätter zusammen, Karon fegt die Terrasse, Rufu stellt zusammen mit Abdusalam die schwere Bank auf den Steg, Richard holt, während der fertige Kartoffelsalat kühlgestellt ist, mit Apoll die Gartenmöbel aus der Garage, die Spinnennetze und vertrockneten Blätter des letzten Sommers müssen von den Tischen und Bänken abgefegt, Abdeckfolien ausgeschüttelt und zusammengefaltet werden. Fackeln, die Richard in der hintersten Ecke des Schuppens gefunden hat, steckt er in die Erde, er hat sie noch mit seiner Frau zusammen eingekauft, ist aber nach ihrem Tod nie mehr dazu gekommen, sie zu verwenden. Das Gartenwasser wird zum ersten Mal in diesem Jahr wieder angestellt, damit das Lagerfeuer notfalls gelöscht werden kann, wo sind die Anschlüsse für den Schlauch? Und der Schlauchwagen hat eine Schraube verloren, vom Grill ist mit der Metallbürste der Rost abzuputzen, Geschirr, Besteck, Mülltüten müssen zum Feuerplatz hinuntergebracht werden, die Getränke werden im See, der erst seit einigen Tagen vollkommen eisfrei ist, kaltgestellt. Sind genug Servietten da? Ketchup und Kerzen? Brot, Chips, Salzstangen und Obst? Karon fegt noch den Steg. Richard füllt Spiritus in die Laternen und stellt sie auf die Tische, da kommen die ersten Gäste schon durch den Garten.
Und nun wird das Feuer entzündet und der Grill angeworfen, wie das im Jargon der Vorstadtbewohner heißt, ja, sagt Richard zu dem oder jenem, das Fleisch ist halal, denn er weiß inzwischen: Verboten ist euch das von selbst Verendete, sowie Blut und Schweinefleisch; das Erdrosselte; das zu Tode Geschlagene; das zu Tode Gestürzte oder Gestoßene und das, was reißende Tiere angefressen haben.
Es wird gegessen und getrunken, es werden Servietten verteilt und Gläser, zwei spielen Federball, einige Boule, hier gibt es ein Gespräch darüber, dass keiner von den afrikanischen Männern Alkohol trinkt, da gibt es ein Gespräch über die Angst vor dem Schwimmen, und dort eins darüber, was man an Ostern eigentlich feiert und was an Pfingsten. Als es zu dämmern beginnt, und Richard die Spirituslaternen anzündet, ruft Raschid: Wie in Afrika! Er nimmt eine Laterne und schwenkt sie begeistert. Ein Gruppenfoto! ruft daraufhin Anne, die Fotografin. Bevor es ganz dunkel ist! Und nun hockt sich Raschid mit der Laterne in der Hand vor die großen Eiben, alle anderen bilden um ihn einen Kreis, der Blitzeschleuderer hält die Bootslaterne aus dem deutschen Baumarkt in der Hand, beleuchtet damit die schwarzen und weißen Gesichter rings um ihn her und fühlt sich ganz wie zu Hause: im fernen Kaduna. Erst jetzt, während Richard sich kurz umdreht, um das Arrangement für das Gruppenfoto zu überprüfen, fällt ihm auf, dass Sylvia nicht neben Detlef steht. Wo ist sie überhaupt? Er hat sie, merkt er erst jetzt, bei dem Fest hier noch gar nicht gesehen. Und Detlef? Richard sieht, dass es Detlef nicht einmal für das Gruppenfoto gelingt zu lächeln.
Nach dem Foto setzen sich alle noch einmal zum Feuer, das schon beinahe ganz heruntergebrannt ist. Der eine sagt: Nachts wird es doch kühl, der andere: Ich borg dir meine Jacke, der dritte: Gibt es noch Wein? Der vierte: Ich leg noch ein bisschen Holz nach. Richard hat sich nach dem Gruppenfoto zu Detlef gesetzt und fragt ihn leise inmitten des allgemeinen Gemurmels: Was ist denn mit Sylvia? Detlef schaut dem, der gerade Holz nachlegt, dabei zu, wie der das Holz in die Glut schiebt, und antwortet Richard erst, als die Flamme wieder höher auflodert: Sie hatte heute ihre Untersuchung. Und? Sie haben sie gleich dabehalten, sagt er, es sieht nicht gut aus. Und obwohl er das ganz leise gesagt hat und auf Deutsch, tritt plötzlich Stille ein, als wüsste jeder, dass da eben einer der ganz schweren Sätze im Leben eines Menschen gesagt worden ist.
Um Gottes willen, sagt Richard.
Was ist denn? fragt Raschid.
Seine Frau ist sehr krank, sagt Richard.
I’m very sorry for you, sagt Raschid zu Detlef.
Danke, sagt Detlef und stochert im Feuer.
Ein Mann denkt jetzt daran, wie die Frau ihn immer auf die Augen geküsst hat.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau so gut in seine Umarmung gepasst hat.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau ihm mit der Hand durchs Haar gefahren ist.
Ein Mann denkt daran, wie gut ihr Atem roch, wenn sie dicht bei ihm war.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau ihm ihre Zunge ins Ohr gesteckt hat.
Ein Mann denkt daran, wie der Körper der Frau geglänzt hat, wenn sie sich zu ihm gelegt hat.
Ein Mann denkt daran, wie sich die Lippen der Frau angefühlt haben.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau aussah, wenn sie schlief.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau seine Hand festgehalten hat.
Ein Mann denkt daran, wie die Frau manchmal gelächelt hat.
Alle miteinander denken einen Moment lang an Frauen, die sie geliebt haben und von denen sie einmal geliebt worden sind.