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Zum Frühstück Earl Grey. Mit Milch und Zucker. Dazu ein Brot mit Honig und eins mit Käse. Bachs Goldberg-Variationen im Radio. Eine Vorlesung hat Richard gehalten vor Jahren: Über Sprache als Zeichensystem. Wörter als Zeichen für Dinge. Sprache als Haut. Und dabei blieben Wörter doch immer nur Wörter. Waren nie das Ding selbst. Viel mehr musste man wissen als nur den Namen, sonst hatte das alles ja gar keinen Sinn. Wodurch wird eine Oberfläche zur Oberfläche? Was trennt sie von dem, was unter ihr liegt, und was von der Luft? Als Kind hatte er die Haut auf der heißen Milch herumgeschoben, diese Haut, vor der es ihn ekelte, und die doch kurz zuvor selbst noch Milch gewesen war. Woraus ist ein Name gemacht? Aus Klang? Oder nicht einmal, wenn er nur geschrieben steht. Vielleicht hört er deswegen so gern Bach, weil es bei Bach keine Oberfläche gibt, sondern viele Erzählungen, die sich überkreuzen. Sich überkreuzen, sich überkreuzen — in jedem Moment, und aus all diesen Kreuzungen ist das Ding gemacht, das bei Bach Musik heißt. Jeder Moment wie ein Schnitt durch ein Stück Fleisch, ein Schnitt durch das Ding selbst. Dieses Jahr wird er sich wieder eine Karte für das Weihnachtsoratorium im Dom reservieren. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau. Er räumt seinen Teller ab, schüttet die Krümel in den Mülleimer. Dann nimmt er den Mantel, fährt in die braunen Schuhe, die am bequemsten sind, never brown in town, heißt es, aber das ist ihm egal. Wenn man im Galopp vom Pferd fällt, sofort aufsteigen und weiter, heißt es, sonst fährt einem die Angst für immer in die Knochen. Angst hat er gestern gehabt in der besetzten Schule. Also Herd aus, Licht aus, Schlüssel und Monatskarte.

Immerhin, bei Tage auf den Oranienplatz zu gehen, ist leichter als so ein nächtlicher Besuch in einer von allen guten Geistern verlassenen Schule. Kurz nach dem Mauerfall war Richard mit seiner Frau zusammen zum ersten Mal nach Kreuzberg gekommen. Sie hatten damals an jedem Sonntag einen Spaziergang durch einen der westlichen Stadtbezirke gemacht. Am Vorabend lasen sie im Stadtführer und am Sonntagvormittag spazierten sie. Hugenottische Flüchtlinge waren die ursprünglichen Siedler in den Straßen rings um den Oranienplatz gewesen, als hier noch Vorstadt war, viele Gärtner angeblich. Und Lenné hatte dann im vorletzten Jahrhundert den Platz geplant, da gab es hier noch einen Kanal, der Platz war ein Ufer gewesen, und das, was jetzt Straße ist, eine Brücke. Später zeigte Richard auch seiner Geliebten den Platz und erklärte ihr, wer Lenné war, einen guten Buchladen gab es gleich um die Ecke, ein Programmkino und ein schönes Café.

Jetzt sieht der Platz wie eine Baustelle aus. Eine Landschaft aus Zelten, Bretterbuden und Planen: weiß, blau und grün. Er setzt sich auf eine Parkbank, sieht sich um und hört, was gesprochen wird. Niemand fragt hier nach seinem Namen. Was sieht er? Was hört er? Er sieht Transparente und Aufsteller mit handgepinselten Parolen. Er sieht schwarze Männer und weiße Sympathisanten. Die Schwarzen in frisch gewaschenen Hosen, bunten Jacken, gestreiften Hemden, hellen Pullovern mit farbigen Schriftzügen, wo wäscht man eigentlich Wäsche auf einem besetzten Platz? Einer trägt goldfarbene Turnschuhe, ist das Hermes? Die Sympathisanten haben weiße Haut, dafür ist ihre Kleidung schwarz und verschlissen, Hosen, T-Shirts, Pullover. Die Sympathisanten sind jung und blass, sie färben sich die Haare mit Henna, sie glauben nicht an die heile Welt, sondern wollen, dass alles anders wird, und stecken sich deshalb Ringe durch Lippen, Ohren oder die Nase. Die Flüchtlinge wiederum wollen in das, was in ihren Augen überzeugend genug wie eine heile Welt aussieht, erst einmal hinein. Hier auf dem Platz überkreuzen sich die zwei Arten des Wünschens und Hoffens, es gibt eine Schnittmenge, aber der stille Beobachter zweifelt daran, dass sie sehr groß ist.

Bevor Richard mit seiner Frau aufs Land zog, hatten sie eine Wohnung in der Stadt gehabt, nur zweihundert Meter Luftlinie vom Westen Berlins entfernt. Und lebten dort beinahe so ruhig wie später dann auf dem Land. Die Mauer hatte aus ihrer Straße eine Sackgasse gemacht, Kinder liefen dort Rollschuh. Als die Mauer 1990 dann Stück für Stück weggeräumt wurde, standen pünktlich zur Eröffnung eines jeden neuen Übergangs zahlreiche gerührte Westberliner da und hießen ihre Brüder und Schwestern aus dem Osten willkommen. Hießen eines Morgens um 9.30 Uhr mit Tränen in den Augen auch ihn willkommen, den Ostberliner, der zufällig in dieser Straße wohnte, die neunundzwanzig Jahre geteilt gewesen war, auf seinem Weg in die Freiheit. Er aber war an diesem Morgen gar nicht auf dem Weg in die Freiheit gewesen, sondern nur auf dem Weg zur Universität — pünktlich mit der Öffnung dieses Teilstücks der Mauer hatte er den S-Bahnhof erreichen wollen, der sich auf der Westseite der Straße befand. Mit den Ellenbogen hatte er sich, ungerührt und in Eile, durch die gerührte Menschenmenge gekämpft, irgendeine Beschimpfung rief ihm einer der enttäuschten Befreier noch nach, aber Richard erreichte die Universität zum ersten Mal in weniger als zwanzig Minuten.

Noch bis vor einem Jahr war die Parkbank, auf der er jetzt sitzt, eine ganz normale Parkbank in einer Grünanlage in Kreuzberg. Spaziergänger saßen hier, erholten sich, ruhten aus. Den Kanal, den es zu Lennés Zeiten hier gegeben hatte, ließ die Stadtverwaltung in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wieder zuschütten, weil er so stank. Ob das Wasser trotzdem noch immer in der Tiefe zwischen den Sandkörnern fließt?

Zur Erholung sitzt jetzt jedenfalls niemand mehr hier. Und dass auch Richard nicht gleich wieder aufsteht, liegt nur daran, dass er nicht zur Erholung hier ist. Das selbstverständliche Sitzen auf einer Parkbank hat durch die schwarzhäutigen Menschen, die auf den Grünflächen hinter den Bänken kampieren, aufgehört, etwas Selbstverständliches zu sein. Berliner, die seit Lennés Zeiten wussten, wie man sich in diesem Park, auf einer Bank sitzend, verhielt, wissen es nicht mehr: Keine alte Frau füttert die Spatzen, keine Mutter schaukelt den Kinderwagen sacht hin und her, kein Student liest, keine drei Trinker halten hier ihr Vormittagstreffen ab, kein Beamter isst seinen Mittagsimbiss, kein Liebespaar hält sich bei der Hand.»Die Verwandlung des Sitzens «wäre auch ein guter Titel für einen Aufsatz. Richard bleibt sitzen, und zwar trotzdem. Immer wenn ein Trotzdem erscheint, das ist seine Erfahrung, wird es interessant.»Die Geburt des Trotzdem «wäre auch ein guter Titel.

Die einzige weißhäutige Person, die hier auf dem Platz ebenso zu Hause zu sein scheint wie die Flüchtlinge, ist eine knochige Frau Anfang vierzig. Sie zeigt einem Türken, wo er die Fladenbrote, die er spenden will, hinbringen kann. Etwas später nimmt sie von einem bärtigen Mann ein Fahrrad entgegen und gibt es an einen der Flüchtlinge weiter, beide schauen dem Flüchtling beim glücklichen Losfahren zu. Übrigens, der hat einen Steckschuss in der Lunge, sagt sie noch, der Bärtige nickt, Libyen, sagt sie, er nickt, dann schweigen beide einen Moment, der Mann sagt, dann will ich mal wieder. Eine junge Frau mit einem Mikrofon in der Hand kommt auf die Knochige zu.