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„Jamie ist ein paar Nächte bei mir geblieben, weil er nach dem, was in dieser Nacht passiert ist, besorgt um mich war. Er ist ein guter Freund, das ist alles.“

Gut.

Thornes Mund hatte sich nicht bewegt, aber Gabrielle hatte das sichere Gefühl, dass sie seine Antwort gehört hatte. Seine unausgesprochenen Worte, seine Freude, als sie abstritt, einen Liebhaber zu haben, schienen tief in ihr etwas anzusprechen. Vielleicht war es nur Wunschdenken. Es war schon lange her, dass sie etwas Ähnliches wie einen Freund gehabt hatte, und allein die Anwesenheit von Lucan Thorne rief merkwürdige Reaktionen ihres Verstandes hervor. Oder eher ihres Körpers.

Als er sie anstarrte, spürte Gabrielle, wie sich ein angenehmes Gefühl der Wärme in ihrem Bauch ausbreitete. Unter seinem Blick wurde ihr ganz heiß. In ihrem Kopf formte sich plötzlich ein Bild – sie und er, wie sie sich gemeinsam nackt in der vom Mondlicht erhellten Dunkelheit ihres Schlafzimmers wanden. Explosionsartig durchströmte Hitze ihren Körper. Sie konnte seine harten Muskeln unter ihren Fingerspitzen spüren, seinen starken Körper, der sich über ihr bewegte … seinen großen Schaft, der sie ausfüllte und tief in ihr explodierte.

Oh ja, dachte sie und wand sich innerlich vor Verlegenheit. Jamie hatte recht. Sie hatte wirklich zu lange enthaltsam gelebt.

Thorne zwinkerte langsam, seine dichten schwarzen Wimpern schlossen sich wie Blenden über seinen sturmsilbernen Augen. Gabrielle fühlte, wie sich ein Teil der Anspannung in ihr löste, wie eine kühle Brise, die über ihre erhitzte nackte Haut strich. Noch immer klopfte ihr Herz schnell, und der Raum erschien ihr immer noch seltsam warm.

Er drehte seinen Kopf von ihr weg, und ihr Blick wurde von seinem Haaransatz angezogen, dort, wo sein gepflegtes schwarzes Haar auf den Kragen seines maßgeschneiderten Hemdes traf. Da war eine Tätowierung auf seinem Hals zu sehen – zumindest dachte sie, es wäre eine Tätowierung. Verschlungene Wirbel und geometrisch wirkende Symbole aus Tinte, nur wenig dunkler als seine Haut, verliefen über seinen Nacken und über die Seite des Halses. Sie verschwanden unter seinem dichten schwarzen Haar. Gabrielle fragte sich, wie der Rest aussah und ob das schöne Muster eine besondere Bedeutung hatte.

Sie verspürte einen fast unbezähmbaren Drang, die Zeichnungen mit ihrer Fingerspitze nachzuzeichnen. Vielleicht auch mit ihrer Zunge.

„Sagen Sie mir, was Sie Ihren Freunden über den Kampf erzählt haben, den Sie vor dem Club gesehen haben.“

Sie schluckte, ihre Kehle war ganz trocken, und sie schüttelte den Kopf, um sich wieder auf das Gespräch konzentrieren zu können. „Ja. Richtig.“

Gott, was stimmte nicht mit ihr? Gabrielle ignorierte das merkwürdige Rasen ihres Herzschlags und konzentrierte sich auf die Ereignisse der Nacht von neulich. Sie erzählte dem Polizisten die Geschichte ausführlich, wie sie es auch bei den anderen Polizeibeamten und später ihren Freunden getan hatte. Sie berichtete ihm jedes schreckliche Detail, und er hörte ganz genau zu, unterbrach sie nicht. Sein Blick ruhte zustimmend auf ihr, was Gabrielles Erinnerung an den Mord zu schärfen schien.

Als sie ihren Bericht beendete, bemerkte sie, dass Thorne sich ein weiteres Mal durch die Bilder auf ihrem Handy klickte. Die grimmige Linie seines Mundes hatte nun einen ernsten Ausdruck angenommen. „Miss Maxwell, was denken Sie – was genau zeigen diese Bilder?“

Sie blickte auf und begegnete seinem Blick, diesen klugen, durchdringenden Augen, die sich in ihre bohrten. In diesem Augenblick schoss Gabrielle ein Wort durch den Kopf – unglaublich, lächerlich, erschreckend klar.

Vampire.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie lahm und versuchte das lauter werdende Flüstern in ihrem Kopf zu übertönen. „Ich meine, ich bin mir nicht sicher, was ich denken soll.“

Falls der Detective nicht sowieso schon dachte, dass sie verrückt war, dann würde er es bestimmt tun, wenn sie mit dem Wort herausplatzte, das nun durch ihre Gedanken trieb und ihr einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Das war die einzige Erklärung, die sie für den grausigen Mord hatte, deren Zeugin sie in jener Nacht geworden war.

Vampire?

Oh Gott. Sie war wirklich verrückt.

„Ich werde dieses Gerät mitnehmen müssen, Miss Maxwell.“

„Gabrielle“, bot sie ihm an. Sie lächelte unbehaglich. „Meinen Sie, dass die gerichtsmedizinische Abteilung, oder wer auch immer diese Art von Sachen macht, in der Lage sein wird, die Bilder deutlicher zu machen?“

Er neigte den Kopf ein wenig, eine Bewegung, die nicht ganz ein Nicken war, und steckte dann ihr Handy in die Tasche. „Ich bringe es Ihnen morgen Abend zurück. Sie sind dann zu Hause?“

„Sicher.“ Wie konnte er eine einfache Frage dermaßen nach einem Befehl klingen lassen? „Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, Detective Thorne. Es waren ein paar harte Tage für mich.“

„Lucan“, entgegnete er und betrachtete sie einen Moment lang eingehend. „Nennen Sie mich Lucan.“

Hitze schien aus seinen Augen nach ihr zu greifen, doch da war noch etwas anderes in diesen Augen: ein geradezu stoisches Verständnis, als habe dieser Mann mehr Schrecken gesehen, als sie jemals würde begreifen können. Sie konnte das Gefühl nicht benennen, das sie in diesem Augenblick durchströmte, aber es brachte ihren Puls zum Rasen, und der Raum fühlte sich an, als sei ihm die gesamte Luft entzogen worden. Der Mann sah sie immer noch an, abwartend, als erwartete er, dass sie seinen Wunsch, sie möge seinen Namen aussprechen, umgehend befolgte.

„In Ordnung … Lucan.“

„Gabrielle“, erwiderte er, und der Klang ihres Namens auf seinen Lippen ließ einen lustvollen Schauder durch ihre Adern schießen.

Etwas an der Wand hinter ihr erregte seine Aufmerksamkeit. Er warf einen Blick dorthin, wo eine von Gabrielles umjubeltsten Fotografien hing. Sein Mund kräuselte sich leicht, eine sinnliche Bewegung seiner Lippen, die auf Belustigung hindeutete, vielleicht auch auf Überraschung. Gabrielle drehte sich um, um das Bild eines Parks in der Innenstadt anzusehen, der gefroren und trostlos unter einer dichten Schneedecke im Dezember lag.

„Ihnen gefällt meine Arbeit nicht“, meinte sie.

Er schüttelte sanft seinen dunkelhaarigen Kopf. „Ich finde sie … faszinierend.“

Jetzt war ihre Neugierde geweckt. „Und warum?“

„Sie finden Schönheit an den ungewöhnlichsten Orten“, antwortete er nach einer langen Pause. Seine Aufmerksamkeit war nun auf sie gerichtet. „Ihre Bilder sind voller Leidenschaft …“

„Aber?“

Zu ihrer Verblüffung streckte er die Hand aus und strich mit dem Finger über die Linie ihres Kinns. „Es sind darauf keine Menschen zu sehen, Gabrielle.“

„Natürlich sind da …“

Sie wollte seine Behauptung schon abstreiten, aber bevor die Worte ihre Zunge erreichten, wurde ihr plötzlich bewusst, dass er recht hatte. Ihr Blick fiel rasch auf jede gerahmte Fotografie, die sie in ihrer Wohnung aufbewahrte, und in ihrer Erinnerung ging sie all die anderen Bilder durch, die in Galerien, Museen und Privatsammlungen überall in der Stadt hingen.

Er hatte recht. Auf allen Bildern waren nur leere Plätze, einsame Plätze zu sehen, egal, was ihr Thema war.

Keines von ihnen enthielt ein einziges Gesicht oder auch nur den Hauch von menschlichem Leben.

„Oh mein Gott“, flüsterte sie, fassungslos über diese Enthüllung.

In nur wenigen Momenten hatte dieser Mann ihre Arbeit definiert, wie es noch nie jemand zuvor getan hatte. Sie hatte nicht nur die offensichtliche Wahrheit in ihrer Kunst gesehen, sondern Lucan Thorne hatte ihr unerklärlicherweise die Augen geöffnet. Es war, als habe er einen Blick in ihre innerste Seele geworfen.