Er hätte es wissen müssen. Wenn er sich recht erinnerte, waren ihm einige Dinge an ihr aufgefallen, die ihn sofort hätten warnen müssen. Zum Beispiel ihre Fähigkeit, den Schleier der vampirischen Bewusstseinskontrolle zu durchdringen, mit denen er und seinesgleichen den Club in jener Nacht durchzogen hatten. Sie hatte die Rogues gesehen – bei ihrem Blutrausch in der Gasse und auf den verschwommenen Bildern ihres Handys –, etwas, was andere Menschen nicht konnten. Später, in ihrer Wohnung, hatte sie sich als resistent gegen Lucans Bemühungen, ihre Gedanken mittels mentaler Suggestion zu lenken, erwiesen. Außerdem vermutete er, dass sie ihm mehr wegen ihres eigenen unbewussten Verlangens nach dem Genuss, den er ihr verschafft hatte, als durch irgendetwas anderes erlegen war.
Es war kein Geheimnis, dass die Menschenfrauen mit der genetischen Veranlagung der Stammesgefährtinnen über einen scharfen Verstand und eine einwandfreie körperliche Verfassung verfügten. Viele von ihnen besaßen außergewöhnliche übersinnliche Kräfte oder paranormale Talente, die sich noch verstärkten, wenn sie erst die Blutverbindung mit einem Vampir eingegangen waren.
Gabrielle Maxwell schien über eine besondere Gabe zu verfügen, die sie sehen ließ, was andere Menschen nicht sehen konnten. Natürlich wusste man nicht, wie weit diese Gabe ging. Lucan aber wollte es wissen. Sein Kriegerinstinkt verlangte, dass er der Sache unverzüglich auf den Grund ging.
Aber sich mit der Frau auf irgendeine Art und Weise einzulassen war das Allerletzte, was er brauchte.
Warum also konnte er ihren süßen Duft, ihre weiche Haut … ihre Sinnlichkeit nicht vergessen? Er hasste es, dass diese Frau eine solche Schwäche in ihm zum Vorschein gebracht hatte, und es besserte seine momentane Stimmung nicht gerade, dass sein Körper durch das Verlangen nach Nahrung schmerzte.
Der einzige Lichtblick in dieser Nacht war das Geräusch der sich nähernden Stiefelabsätze der Rogues auf dem Asphalt, irgendwo nahe der Einmündung in die Seitenstraße. Ein paar Schritte vor ihnen bog ein Mann um die Ecke. Jung, gesund, bekleidet mit einer schwarz-weiß karierten Hose und einem fleckigen weißen Kittel, der nach einer schmierigen Restaurantküche roch – und plötzlich auch nach Angstschweiß. Der Koch blickte über seine Schulter, sah die vier Vampire immer näher kommen. Ein gedämpfter, nervös klingender Fluch erklang in der Dunkelheit. Der Mensch drehte sich wieder um und ging schneller, die Hände zu Fäusten geballt und die schreckgeweiteten Augen auf den dunklen Asphalt zu seinen Füßen geheftet.
„Rennen ist nicht nötig, kleiner Mann“, spottete einer der Rogues, mit einer Stimme kratzig wie Kies.
Ein anderer der Vampire stieß ein schrilles, höhnisches Kreischen aus und sprang in großen Sätzen seinen drei Gefährten davon. „Ja, renn jetzt nicht weg. Du würdest sowieso nicht weit kommen.“
Das Gelächter der Rogues hallte von den Häusern, die die enge Straße säumten, wider.
„Scheiße“, fluchte der Mann leise. Er wandte sich nicht noch einmal um, sondern hastete weiter, war kurz davor, in blinder Panik loszurennen.
Weit wäre er allerdings nicht gekommen, denn als er auf Lucans Höhe war, trat dieser langsam aus dem Dunkel heraus und stellte sich mitten auf den Weg. Er sah bedrohlich aus mit seinem massigen Körper und dem Zwillingsschwert. Er warf den Rogues ein kaltes Lächeln zu, seine Zähne in Erwartung des bevorstehenden Kampfes bereits ausgefahren. „Guten Abend, meine Damen.“
„Oh Gott!“, keuchte der Mann. Er blieb stehen und starrte Lucan voller Entsetzen an, seine Beine gaben unter ihm nach und er taumelte zu Boden. „Scheiße!“
„Steh auf.“ Lucan warf ihm einen schnellen Blick zu, als sich der junge Mann wieder hochrappelte. „Verschwinde von hier.“
Er wetzte die beiden Klingen seines Schwertes aneinander; das kalte, metallische Geräusch von Stahl, der über die tödliche Schneide harten Stahls glitt, erfüllte die dunkle Straße. Hinter den vier Rogues landete Dante gebückt auf dem Asphalt und richtete sich dann zu seiner vollen Größe von zwei Metern auf. Er hatte kein Schwert, aber um seine Taille war ein Ledergürtel geschlungen, der mit einer Auswahl an tödlichen Nahkampfwaffen ausgestattet war, einschließlich eines Paares rasiermesserscharfer gewölbter Klingen, die als höllische Verlängerung seiner grausam schnellen Hände dienten. Er nannte sie Malebranche, und in der Tat waren es bösartige Klauen. Dante hatte sie im Handumdrehen gezückt. Er war äußerst gefährlich, stets bereit zu einem Kampf Mann gegen Mann.
„Oh mein Gott“, schrie der Mensch wieder mit sich überschlagender Stimme angesichts des Grauens um ihn herum. Panisch kramte er in seinen Taschen und zog schließlich aus seiner hinteren Hosentasche eine abgewetzte Brieftasche, die er Lucan vor die Füße warf.
„Nehmen Sie es, Mann! Sie können es haben. Nur töten Sie mich nicht, ich bitte Sie!“
Lucan ließ die vier Rogues nicht aus den Augen, die sich ebenfalls für den Kampf bereit machten. „Verschwinde hier. Jetzt sofort.“
„Er gehört uns“, fauchte einer der Rogues. Gelbe Augen starrten Lucan hasserfüllt an, die Pupillen voller Gier zu vertikalen Schlitzen verengt. Speichel tropfte von den langen Fangzähnen zu Boden, die Gier nach Blut kannte keine Grenzen mehr.
So wie es Menschen gab, die süchtig nach Drogen waren, so war auch diese Gier nach Blut eine Sucht, eine Sucht, die zerstörerisch für den gesamten Stamm war. Es war ein schmaler Grat zwischen dem nötigen Stillen des Hungers und der Sucht nach Blut, nach immer mehr Blut. Viele Vampire erkannten diese Grenze nicht und ergaben sich dem Blutrausch, manche mit voller Absicht, manche aus Unwissenheit, wieder andere aufgrund mangelnder Willenskraft. Wenn der Sucht nicht rechtzeitig Einhalt geboten wurde, gab es keine Hoffnung auf eine Umkehr. Dann wurde ein Vampir zu einem Rogue, so wie diese wilden Bestien, die nun knurrend vor ihm standen. Rogues waren heißhungrige Sklaven ihrer Sucht und ein Problem für den restlichen Stamm, das man am besten durch eine rasche Ausrottung der Rogues lösen konnte.
Begierig darauf, die vier Rogues zu besiegen, schlug Lucan seine langen Klingen zusammen, Funken sprühten, als eine titanverstärkte Klinge gegen die andere krachte.
Der junge Mann hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt, erstarrt vor Angst, unfähig, auch nur einen Schritt zu tun. Sein Blick irrte zwischen den vorrückenden Rogues und Lucan, der unerschütterlich dastand, hin und her. Dass er nicht fortlief, bedeutete sein Todesurteil, wie Lucan wusste, aber das war nicht sein Problem. Ihm ging es einzig und allein darum, diese Blutsauger und den Rest ihrer kranken Art auszumerzen.
Einer der Rogues wischte sich mit einer schmutzigen Hand über den geifernden Mund. „Lass uns in Ruhe, Arschloch. Wir brauchen Nahrung.“
„Nicht heute Nacht“, knurrte Lucan. „Nicht in meiner Stadt.“
„Deine Stadt?“ Die anderen lachten höhnisch, als der Rogue, der ganz vorne stand, Lucan vor die Füße spuckte. „Diese Stadt gehört uns. Es dauert nicht lange, bis uns alles gehört.“
„So ist es“, höhnte einer der anderen. „Sieht also so aus, als ob du der Eindringling hier wärest.“
Der junge Mann schien indes zu sich zu kommen und versuchte zu fliehen, doch er kam nicht weit. Schneller als man gucken konnte, ließ einer der Rogues seine Hand nach vorne schnellen und packte den Mann an der Kehle. Er riss ihn mit einem Ruck von den Füßen und hielt ihn hoch, sodass die hohen schwarzen Turnschuhe des Mannes fünfzehn Zentimeter über dem Boden hingen. Der Mann röchelte und wand sich. Er wehrte sich verzweifelt, doch der Rogue drückte fester zu und würgte ihn langsam mit der bloßen Hand. Lucan sah ungerührt zu, wie der Vampir seine zuckende Beute fallen ließ und dem Mann mit seinen Zähnen den Hals aufriss.
Aus den Augenwinkeln sah Lucan, wie Dante sich leise hinter den Rogues anschlich. Mit entblößten Fangzähnen leckte er sich die Lippen, voller Kampfeslust. Er wurde nicht enttäuscht. Lucan schlug zuerst zu, und dann war die Straße erfüllt von klirrendem Metall und dem Knacken brechender Knochen.