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Die Morgendämmerung begann soeben erst über den Horizont zu kriechen. Das Licht war unheimlich und ätherisch, ein Dunstschleier in rosa- und lavendelfarbenen Abstufungen hüllte die gotischen Bauwerke in einen unwirklichen Schein ein. Selbst in sanfte Pastelltöne getaucht, hatte dieser Ort etwas Bedrohliches an sich.

Dieser Kontrast war das, was sie heute Morgen hierhin geführt hatte. Diesen Ort bei Sonnenuntergang aufzunehmen, wäre wohl naheliegender gewesen, denn so wäre die schaurige Atmosphäre der leer stehenden Gebäude besser zum Ausdruck gekommen, aber es war die Gegenüberstellung des warmen Lichtes der Morgendämmerung und des kalten, unheilvollen Objektes, das Gabrielles Vorstellungskraft anregte. Sie blieb stehen und nahm die Kamera aus der Tasche, die über ihrer Schulter hing. Sie machte ein halbes Dutzend Aufnahmen, steckte den Verschluss wieder auf das Objektiv und setzte ihre Wanderung in Richtung der unheimlichen Gebäude fort.

Ein hoher Sicherheitsdrahtzaun ragte drohend vor ihr auf und schützte das Grundstück vor dem Forschungsdrang neugieriger Leute wie sie. Aber Gabrielle kannte seine verborgene Schwachstelle. Sie hatte sie entdeckt, als sie zum ersten Mal hierhergekommen war, um Außenaufnahmen zu machen. Jetzt eilte sie an dem Zaun entlang, bis sie die südwestliche Ecke erreicht hatte, und ging dann in die Hocke. Hier hatte jemand heimlich den Maschendraht mit einem Drahtschneider durchtrennt und so eine Lücke geschaffen, die gerade groß genug war, dass sich ein Halbwüchsiger hindurchzwängen konnte – oder eine entschlossene Fotografin, die Schilder mit der Aufschrift Zutritt verboten und Zutritt nur für Befugte eher als freundliche Empfehlung betrachtete denn als einzuhaltende Gesetze.

Gabrielle drückte den zerschnittenen Draht nach oben, schob ihre Ausrüstung hindurch und zwängte sich dann, ähnlich wie eine Spinne, auf dem Bauch durch die niedrige Öffnung. Unbehagen durchströmte sie, als sie auf der anderen Seite des Zauns wieder aufstand. Sie war an diese Art von heimlichen, einsamen Erkundungsgängen gewöhnt. Oft hing ihr künstlerisches Schaffen von ihrem Mut ab, trostlose Orte ausfindig zu machen, die man durchaus auch als gefährlich betrachten konnte. Diese gruselige Nervenheilanstalt konnte man getrost als Letzteres bezeichnen, dachte sie, als ihr Blick zu dem Graffiti neben einer Außentür wandelte: ScHLECHtE SCHWINgUNgEN.

„Das kannst du laut sagen“, murmelte sie vor sich hin. Als sie den Dreck und die Kiefernnadeln von ihrer Kleidung klopfte, wanderte ihre Hand automatisch zu der vorderen Tasche ihrer Jeans, um zu überprüfen, ob ihr Handy da war. Natürlich war es das nicht, da es noch immer im Besitz von Detective Thorne war. Noch ein weiterer Grund, sauer auf ihn zu sein, weil er sie gestern Abend versetzt hatte.

Vielleicht sollte sie ein wenig nachsichtiger mit dem Typen sein, dachte sie, plötzlich eifrig bemüht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf das unheilvolle Gefühl, das auf ihr lastete, seitdem sie das Grundstück der Nervenheilanstalt betreten hatte. Vielleicht war Thorne nicht aufgetaucht, weil ihm bei der Ausübung seines Jobs etwas Schlimmes zugestoßen war.

Was, wenn er bei seiner Arbeit verwundet worden und deshalb nicht zu ihr gekommen war – weil er in irgendeiner Weise außer Gefecht gesetzt worden war? Vielleicht hatte er nicht angerufen, um sich zu entschuldigen oder seine Abwesenheit zu erklären, einfach, weil es ihm nicht möglich war.

Klar. Und vielleicht war ihr das Gehirn ins Höschen gerutscht, und zwar bereits in der ersten Sekunde, in der sie diesen Mann zu Gesicht bekommen hatte.

Sich so über sich selbst lustig machend, sammelte Gabrielle ihre Sachen zusammen und ging auf das Hauptgebäude zu. Bleicher Kalkstein ragte in Form des steilen Hauptturms in den Himmel, gekrönt von Turmspitzen, die der vornehmsten gotischen Kathedrale alle Ehre gemacht hätten. Er war umgeben von einer ausgedehnten Landschaft roter Backsteinmauern und ziegelgedeckter Dächer. Die Anlage war fledermausflügelartig angeordnet, verbunden durch überdachte Wege und gewölbte, kreuzgangartige Nebengebäude.

So beeindruckend dieser Gebäudekomplex auch war, das Gefühl einer latenten Bedrohung, das von ihm ausging, ließ sich nicht ignorieren, so als ob tausend Sünden und Geheimnisse hinter den schartigen Mauern und zerschlagenen, mit Gitterstäben besetzten Glasfenstern lauerten. Gabrielle begab sich zu den Stellen, an denen das Licht am besten war, und machte einige Bilder. Hier gab es keine direkte Möglichkeit, in das Gebäude zu gelangen; der Haupteingang war verriegelt und fest mit Brettern vernagelt. Falls sie hineinwollte, um Innenaufnahmen zu machen – und das wollte sie definitiv –, würde sie um das Gebäude herumgehen und ihr Glück bei einem der Fenster im Erdgeschoss oder einer Kellertür versuchen müssen.

Sie wanderte eine Böschung hinunter, auf die Vorderseite des Gebäudes zu, und fand, wonach sie gesucht hatte: Hölzerne Fensterläden verbargen drei tief liegende Fenster, die wahrscheinlich zu einem Vorratsraum oder einem Kriechboden des Gebäudes führten. Die rostigen Riegel der Läden waren korrodiert, aber nicht verschlossen, und sie ließen sich, mithilfe eines Steins, den Gabrielle in der Nähe fand, ganz leicht abbrechen. Sie zog den hölzernen Laden von dem Fenster, hob die schwere Glasscheibe an und hielt sie mit der Fensterverstrebung offen.

Nach einem flüchtigen Blick im Lichtkegel ihrer Taschenlampe, um sicherzugehen, dass der Raum leer war und nicht über ihr zusammenbrechen würde, kletterte sie durch die Öffnung. Als sie von dem Fenstersims heruntersprang, knirschten die Sohlen ihrer Stiefel auf einer dicken Schicht aus zerbrochenem Glas, Staub und Schutt, die sich seit Jahren dort angesammelt hatten. Das Fundament aus grauen Schlackenbacksteinen reichte etwa dreieinhalb Meter tief und verschwand in der Schwärze der unbeleuchteten Kellerzwischendecke. Gabrielle schaltete ihre Taschenlampe wieder ein und ließ den dünnen Lichtstrahl in die Schatten am anderen Ende des Raumes wandern. Dann leuchtete sie die Wand entlang und hielt die Lampe ruhig, als sie auf eine kaputte alte Tür zum Versorgungsbereich stieß, auf die mithilfe einer Schablone die Worte Für Unbefugte kein Zutritt geschrieben waren.

„Wollen wir wetten?“, flüsterte sie, während sie sich der Tür näherte und sie unverschlossen vorfand.

Gabrielle öffnete sie und leuchtete mit der Taschenlampe auf die andere Seite, die aus einem langen, tunnelähnlichen Gang bestand. Zerbrochene Leuchtstoffröhren hingen an der Decke, einige der Glasabdeckungen waren auf den Boden gefallen und lagen nun in Scherben und voller Staub auf dem Linoleumboden. Gabrielle betrat den dunklen Ort, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte, und mit ein wenig Angst vor dem, was sie möglicherweise in den verlassenen Eingeweiden der Nervenheilanstalt finden würde.

Sie ging an einem offenen Raum vorbei, in den man von dem Gang aus hineinblicken konnte. Da streifte der Schein ihrer Taschenlampe einen abgenutzten Zahnarztstuhl aus rotem Vinyl, der in der Mitte des Raumes stand, als würde der nächste Patient jeden Moment hineinkommen. Gabrielle nahm ihre Kamera aus ihrer Tasche und machte schnell ein paar Aufnahmen. Dann ging sie weiter, an weiteren Untersuchungs- und Behandlungsräumen vorbei. Vermutlich war dies hier also der medizinische Flügel des Gebäudes gewesen. Sie kam zu einem Treppenhaus und stieg zwei Treppen hoch, froh, sich in dem Hauptturm wiederzufinden, wo große Fenster das sanfte Morgenlicht hereinließen.

Mit dem Objektiv der Kamera überblickte sie große Rasenflächen und breite Innenhöfe, flankiert von den eleganten Backstein- und Kalksteingebäuden. Sie machte ein paar Bilder von der verblassten Pracht des Ortes, die die Architektur und das Spiel des Sonnenlichts mit den gespenstischen Schatten würdigten. Es war seltsam, aus dem Inneren eines Gebäudes zu blicken, das früher einmal so viele verwirrte Seelen beherbergt hatte. In der unheimlichen Stille konnte Gabrielle beinahe die Stimmen der Patientinnen und Patienten hören, Leute, die nicht in der Lage gewesen waren, den Ort so einfach zu verlassen, wie sie es jetzt konnte.