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Nun konnte sie ihren Verfolger nicht mehr hören. Vielleicht hatte sie ihn in den dunklen, mit zahlreichen Biegungen versehenen Korridoren abgeschüttelt. Gott, sie hoffte es.

Gabrielle rappelte sich auf und rannte auf die Ecke der Umzäunung zu, in der sich die Lücke befand. Es dauerte nicht lange, bis sie sie gefunden hatte. Sie ließ sich auf Hände und Knie nieder, zwängte sich unter dem aufgeschnittenen Teil des Drahtes hindurch; ihr Herzschlag hämmerte ihr in den Ohren, Adrenalin schoss durch ihre Adern. In ihrer blinden Panik riss sie sich eine Seite ihres Gesichtes an einer scharfen Kante auf. Ihre Wange brannte, und sie spürte, wie das Blut heiß an ihrem Ohr herunterrann. Aber sie ignorierte diesen Schmerz ebenso wie jenen, den ihr die Kameratasche an ihrer Hüfte verursacht hatte, als sie sich auf dem Bauch durch den Zaun wand und nach draußen in die Freiheit entkam.

Als sie sich durch die kleine Öffnung gezwängt hatte, sprang Gabrielle auf die Füße und überquerte die breite, unebene Rasenfläche des äußeren Geländes in wilder Hast. Sie blickte sich nur kurz um – lange genug, um zu sehen, dass der riesige Wachmann immer noch hinter ihr her war. Er war irgendwo aus dem Erdgeschoss gekommen und kam jetzt mit langen Sätzen hinter ihr her, wie eine Bestie direkt aus der Hölle. Gabrielles Magen krampfte sich zusammen, und sie schluckte panisch, als sie ihn sah. Der Kerl war gebaut wie ein Panzer. Wahrscheinlich wog er deutlich mehr als hundert Kilogramm, er war reine Muskelmasse. Auf dem Rumpf saß ein großer Quadratschädel, und sein Haar war militärisch kurz geschnitten. Der große Mann rannte bis zu dem hohen Zaun und hielt schließlich an, schlug mit der Faust gegen die Maschen, während Gabrielle das schützende dichte Unterholz erreichte, das das Grundstück von der Straße trennte.

Ihr Auto stand genau da, wo sie es abgestellt hatte. Mit zitternden Händen fummelte Gabrielle am Türschloss herum, voller Angst, dass dieser Muskelmann sie noch einholen würde. Auch wenn das beinahe unmöglich war, strömte noch immer Adrenalin durch ihren angsterfüllten Körper. Sie ließ sich auf den Ledersitz des Wagens fallen, stieß den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. Mit klopfendem Herzen trat sie auf das Gaspedal und bretterte über den Asphalt. Mit quietschenden, durchdrehenden Reifen gelang ihr die Flucht, die Luft erfüllt vom Gestank nach dem verbrannten Gummi der Reifen ihres Autos.

6

Mitten in der Woche auf dem Höhepunkt der sommerlichen Hauptsaison wimmelte es in den Parks und auf den Boulevards von Boston nur so vor Menschen. Nahverkehrszüge brachten in kurzen Abständen Bewohner der Vorstädte in die Stadt, sie strömten zu ihren Arbeitsplätzen, zu den Museen sowie zu den zahllosen anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Mit Kameras bewaffnete Leute kletterten in Ausflugsbusse und Kutschen, um die Stadt zu besichtigen; andere stellten sich in Schlangen an, um an überteuerten, überfüllten Touren teilzunehmen, die sie zu Hunderten nach Cape Cod hinaustransportieren würden.

Unter dem bunten, geschäftigen Treiben auf der Straße lag eine andere Welt verborgen. Etwa neunzig Meter unter der Erde, unter einem stark gesicherten großen Haus, beugte sich Lucan Thorne im Hauptquartier der Krieger des Stammes über einen Flachbildschirm und murmelte einen deftigen Fluch. Das Vampir-Identifizierungsprogramm lief mit der Geschwindigkeit von Maschinengewehrsalven über das Display des Monitors, während ein Computerprogramm eine riesige internationale Datenbank nach Gegenstücken der Fotos durchsuchte, die Gabrielle Maxwell gemacht hatte.

„Noch nichts?“, fragte er und warf Gideon, der den Computer bediente, einen ungeduldigen Blick zu.

„Bisher rein gar nichts. Aber mein Suchlauf läuft noch. IID hat ein paar Millionen Unterlagen, die durchsucht werden müssen.“ Die scharfen blauen Augen des Vampirs blitzten über dem Rand einer eleganten silbernen Sonnenbrille auf. „Ich werde deine Scheißkerle schon erwischen, mach dir keine Sorgen.“

„Ich mache mir nie Sorgen“, erwiderte Lucan, und er meinte es wirklich so. Gideon besaß einen außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten, dazu kam verstärkend eine weitere Eigenschaft: eine unglaubliche Hartnäckigkeit. Der Vampir war ein ebenso unnachgiebiger Bluthund wie ein ausgesprochenes Genie, und Lucan war verdammt glücklich, ihn auf seiner Seite zu haben. „Wenn du sie nicht auftreiben kannst, Gideon, dann kann es niemand.“

Unter seinem Schopf aus kurzem, stacheligem blondem Haar zeigte der Computerguru des Stammes ein großspuriges, selbstsicheres Grinsen. „Und das ist der Grund, warum ich die große Kohle verdiene.“

„Ja, so was in der Art“, meinte Lucan und riss sich von den unaufhörlich weiterlaufenden Abfragen auf dem Bildschirm los.

Keiner der Stammeskrieger, die sich dazu verpflichteten, das Volk vor der Geißel der Rogues zu beschützen, tat das, weil er irgendeine Art von Belohnung dafür erhielt. Das hatte es noch nie gegeben, in der ganzen Zeit von der Gründung ihres Bündnisses – etwa zurzeit des Mittelalters der Menschen – bis heute nicht. Jeder Krieger hatte seine Gründe, sich in diese Gefahr zu begeben – zugegebenermaßen waren einige von ihnen edler als andere. Gideon zum Beispiel hatte sich, nachdem die Rogues seine Zwillingsbrüder, beinahe noch Kinder, außerhalb des Dunklen Hafens von London getötet hatten, als Einzelgänger auf die Jagd nach den Rogues gemacht, bis er auf Lucan getroffen war. Das war nun drei Jahrhunderte her, vielleicht einige Jahrzehnte mehr oder weniger.

Auch seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert waren damals außergewöhnlich, wurden nur übertroffen von seinem messerscharfen Verstand. Er hatte zahlreiche Rogues zur Strecke gebracht, doch gab er später seiner Stammesgefährtin Savannah zuliebe den direkten Kampf Mann gegen Mann auf und widmete sich fortan der technischen Seite des Kampfes gegen die Rogues.

Und der Vampir war verdammt gut darin.

Jeder der sechs Krieger, die aktuell an Lucans Seite kämpften, verfügte über seine ganz eigenen persönlichen Talente. Auch hatte jeder von ihnen mit seinen eigenen persönlichen Dämonen zu kämpfen, auch wenn niemand von ihnen übertrieben emotional war. Einige Angelegenheiten blieben einfach besser im Dunkeln. Derjenige unter ihnen, der wahrscheinlich noch mehr so empfand als Lucan selbst, war Dante.

Lucan bemerkte den jungen Vampir, als er aus einem der zahlreichen Zimmer des Hauptquartiers ins Techniklabor kam. Dante war mit seiner üblichen einfachen schwarzen Montur bekleidet, einem Motorradoutfit aus Leder und einem passenden Trägerhemd, das seine auffälligen, farbigen Tätowierungen und Symbole des Stammes zur Schau stellte. Sein beeindruckender Bizeps war rundherum mit komplizierten Bildern bedeckt, die für menschliche Augen seltsam abstrakt wirken würden, eine Reihe aus ineinander verwobenen Symbolen und geometrischen Mustern aus dunklen Hennafarben. Vampiraugen würden die Symbole als das sehen, was sie in Wirklichkeit auch waren: Dermaglyphen, angeborene Male, ererbt von den Vorfahren des Stammes, deren haarlose Haut von veränderlichen, tarnenden Pigmenten bedeckt gewesen war.

Normalerweise waren Glyphen eine Quelle des Stolzes für den Stamm, einzigartige Hinweise auf Abstammung und sozialen Rang. Gen-Eins-Angehörige wie Lucan trugen mehr und farbintensivere Male als die anderen Vampire. Seine eigenen Dermaglyphen bedeckten Vorder- und Rückseite seines Rumpfes und erstreckten sich bis hin zu den Schenkeln und den Oberarmen, überzogen seinen Nacken bis hin zu seiner Kopfhaut. Wie lebende Tätowierungen veränderten die Glyphen ihre Farbe entsprechend dem Gemütszustand eines Vampirs.

Die von Dante leuchteten im Augenblick in einem tiefen, gelbbraunen Bronzeton. Es konnte also noch nicht lange her sein, dass er Nahrung zu sich genommen hatte. Zweifellos hatte Dante, nachdem er und Lucan sich in der vorigen Nacht nach der Jagd auf die Rogues getrennt hatten, sich auf den Weg in das Bett – und zu der reifen, saftigen Ader – einer willigen weiblichen Blutwirtin aus der Menschenwelt gemacht.