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Sie stand da, vollkommen erstarrt vor Entsetzen, und drückte ihr Baby eng an sich, während der Mann brutal an der blutenden Wunde riss, die er ihr am Hals verpasst hatte. Seine Finger wuchsen förmlich in die Länge, wo er ihren Kopf und ihre Schulter festhielt, und er grub die Fingerspitzen in sie hinein wie die Klauen eines Monsters. Grunzend bohrte er seinen Mund und seine scharfen Zähne tiefer in ihren Körper. Obwohl ihre Augen vor Schreck geweitet waren, begann ihre Umgebung zu verschwimmen, ihre Gedanken überstürzten sich. Dann verdüsterte sich alles um sie herum.

Er würde sie töten. Das Monster war dabei, sie zu töten. Und dann würde es auch ihr Baby töten.

„Nein.“ Sie rang nach Luft, schmeckte aber nichts als Blut. „Du gottverdammter – nein!“

Mit einer verzweifelten, fast übermenschlichen Anstrengung rammte sie krachend ihren Kopf in das Gesicht des Mannes. Als er überrascht knurrte und zurückzuckte, riss sie sich von ihm los. Sie taumelte und wäre beinahe hingefallen, fing sich jedoch im letzten Moment wieder. Ihr schreiendes Kind in einem Arm, den anderen hochreißend, um nach der brennenden Wunde an ihrem Hals zu fühlen, wich sie langsam zurück, weg von dem Monster, das seinen Kopf hob und sie nun mit glühenden, gelben Augen und blutverschmierten Lippen höhnisch angrinste.

„Oh Gott“, stöhnte sie auf. Ihr wurde von dem Anblick übel.

Sie machte noch einen Schritt nach hinten. Dann drehte sie sich um, bereit wegzulaufen, auch wenn es sinnlos war.

Und da sah sie den anderen.

Wilde, bernsteingelbe Augen blickten direkt durch sie hindurch, aber das Fauchen, das zwischen seinen riesigen, schimmernden Vampirzähnen hervordrang, verkündete ihren Tod. Sie war sich sicher, dass er das vollenden würde, was der Erste begonnen hatte, aber nichts passierte. Beide stießen kehlige Worte aus, dann schritt der Neuankömmling an ihr vorbei, ein langes silbernes Messer in der Hand.

Nimm das Kind und geh.

Der Befehl schien aus dem Nirgendwo zu kommen und drang kaum in ihren vernebelten Verstand. Dann ertönte er erneut, diesmal schärfer, und weckte sie aus ihrer Erstarrung. Sie lief davon.

In blinder Panik rannte sie von dem Bahnhof weg, eine nahe gelegene Straße hinunter. Immer tiefer floh sie in die unbekannte Stadt, in die Nacht hinein. Hysterie ergriff sie und ließ jedes Geräusch – selbst den Klang ihrer eigenen Füße – monströs und tödlich wirken.

Und ihr Baby hörte einfach nicht auf zu schreien.

Sie würden entdeckt werden, wenn sie das Baby nicht dazu brachte, still zu sein. Sie musste es zu Bett bringen, in sein Gitterbettchen, wo es hübsch bequem und warm war. Dann würde ihr kleines Mädchen glücklich sein. Dann würde es in Sicherheit sein. Ja, genau das musste sie tun. Das Baby zu Bett bringen, wo die Monster es nicht finden konnten.

Sie selbst war ebenfalls müde, aber sie konnte sich nicht ausruhen. Das war zu gefährlich. Sie musste nach Hause, bevor ihre Mutter herausfand, dass sie schon wieder zu spät war. Zwar war sie benommen und verwirrt, aber sie musste laufen. Also tat sie das. Sie rannte, bis sie umfiel, erschöpft und nicht in der Lage, noch einen einzigen Schritt zu machen.

Als sie einige Zeit später erwachte, hatte sie das Gefühl, dass ihr Verstand in tausend Stücke zerbrach. Sie konnte nicht mehr klar denken, die Realität verzerrte sich zu etwas Schwarzem und Unfassbarem, etwas, das ihr immer weiter entglitt.

Irgendwo in der Ferne hörte sie ein ersticktes Weinen. Es war so ein winziges Geräusch. Sie hob die Hände hoch, um sich die Ohren zuzuhalten, aber sie konnte das hilflose kleine Wimmern noch immer hören.

„Pst“, murmelte sie ins Leere hinein und wiegte sich hin und her. „Sei nun leise, das Baby schläft. Sei leise sei leise sei leise …“

Aber das Weinen ging weiter. Es wollte nicht aufhören, es wollte einfach nicht aufhören. Es zerriss ihr das Herz, als sie auf der schmutzigen Straße saß und mit leerem Blick in die anbrechende Morgendämmerung starrte.

1

Heute

„Bemerkenswert. Sehen Sie sich nur den Einsatz von Licht und Schatten an …“

„Sehen Sie, wie dieses Bild die Traurigkeit des Ortes andeutet, aber wie es ihm dennoch gelingt, eine Aussicht auf Hoffnung zu vermitteln?“

„… eine der jüngsten Fotografinnen, deren Werk in die neue Sammlung von moderner Kunst des Museums aufgenommen wird.“

Gabrielle Maxwell betrachtete die Gruppe der Ausstellungsbesucher aus der Ferne. Sie hielt sich an einem Glas mit warmem Champagner fest, während schon wieder eine neue Masse gesichtsloser, namenloser Sehr Wichtiger Leute begeistert von den zwei Dutzend Schwarz-Weiß-Fotografien schwärmte, die an den Wänden der Galerie hingen. Sie warf von der anderen Seite des Baumes aus etwas verwundert einen Blick auf die Bilder. Es waren gute Fotos – ein wenig trostlos, da ihr Thema verlassene Mühlen und Hafengelände außerhalb von Boston waren, aber sie verstand nicht so ganz, was alle anderen darin sahen.

Andererseits tat sie das nie. Gabrielle machte die Fotos nur; die Interpretation und auch ihre Beurteilung überließ sie anderen Leuten. Von Natur aus introvertiert, war es ihr unangenehm, sich als Zielscheibe dieser Unmenge an Lob und Aufmerksamkeit wiederzufinden … aber immerhin konnte sie davon ihre Rechnungen bezahlen. Und das sehr gut. Heute Abend konnte darüber hinaus auch ihr Freund Jamie, der Besitzer der hippen kleinen Kunstgalerie in der Newbury Street, davon seine Rechnungen bezahlen. Die Galerie war, zehn Minuten vor Schluss, noch immer vollgestopft mit potenziellen Käuferinnen und Käufern.

Gabrielle war benommen von dem, was auf sie einstürzte: Händeschütteln hier, Begrüßungen da, Küsschen dort, dazu andauernd höflich lächeln. Alle, von den begüterten Ehefrauen aus Back Bay bis hin zu den vielfach gepiercten, tätowierten Anhängern der Gothicszene, versuchten, sich gegenseitig – und sie – mit Analysen ihres Werkes zu beeindrucken. Sie aber sehnte nur noch das Ende der Ausstellung herbei. Die ganze letzte Stunde hatte sie sich am Rande gehalten und über eine Flucht zu einer warmen Dusche und einem weichen Kissen nachgedacht, die beide in ihrer Wohnung im Ostteil der Stadt auf sie warteten.

Allerdings hatte sie einigen Freunden – Jamie, Kendra und Megan – versprochen, nach der Ausstellung mit ihnen essen zu gehen. Als die letzten Besucher ihre Käufe getätigt und die Galerie verlassen hatten, wurde Gabrielle in ein Taxi verfrachtet, bevor sie die Chance hatte, auch nur daran zu denken, die Verabredung abzusagen.

„Was für ein toller Abend!“ Jamies androgyn wirkendes blondes Haar schwang um sein Gesicht, als er sich über die beiden anderen Frauen beugte, um Gabrielles Hand zu ergreifen. „Ich hatte am Wochenende noch nie so viel Betrieb in der Galerie – und die Einnahmen von heute Abend waren unglaublich! Vielen Dank, dass ich dich präsentieren durfte.“

Gabrielle lächelte über die Aufregung ihres Freundes. „Klar. Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken.“

„Es war nicht allzu schlimm für dich, oder?“

„Wie hätte es das sein können, wenn halb Boston ihr zu Füßen lag?“, schwärmte Kendra, bevor Gabrielle selbst antworten konnte. „War das der Gouverneur, mit dem ich dich beim Häppchenessen habe reden sehen?“

Gabrielle nickte. „Er hat mir einen Auftrag für einige Werke für sein Landhaus auf The Vineyard angeboten.“

„Ist ja toll!“

„Ja“, erwiderte Gabrielle ohne großen Enthusiasmus. Sie hatte einen ganzen Stapel Visitenkarten in ihrer Brieftasche – das bedeutete wenigstens ein Jahr ständige Arbeit, falls sie das wollte. Warum war sie also jetzt in Versuchung, das Fenster des Taxis zu öffnen und sie in alle Winde zu zerstreuen?

Sie ließ ihren Blick über die draußen vorbeiziehende Nacht schweifen und sah seltsam distanziert zu, wie Lichter und Leben vorbeiflackerten. Die Straßen wimmelten von Menschen: Paare, die Hand in Hand umherschlenderten, Grüppchen von Freunden, die lachten und redeten – alle hatten sie viel Spaß. Sie aßen an Cafetischen vor In-Bistros oder betrachteten die Auslagen in den Schaufenstern der Geschäfte. Überall, wo sie hinsah, pulsierte die Stadt vor Farben und Leben. Gabrielle nahm all das mit dem Blick der Künstlerin in sich auf und fühlte dennoch gar nichts. Dieser rege Betrieb – auch in ihrem eigenen Leben – schien in einem rasenden Tempo ohne sie abzulaufen. In letzter Zeit hatte sie mehr und mehr den Eindruck, als wäre sie in einem Rad gefangen, das nicht aufhören wollte, sich um sie zu drehen und sie in einen endlosen Kreislauf von vergehender Zeit und Sinnlosigkeit einzuschließen.