„Stimmt irgendwas nicht, Gab?“, fragte Megan, die neben ihr auf dem Rücksitz des Taxis saß. „Du bist so still.“
Gabrielle zuckte mit den Achseln. „Es tut mir leid. Ich bin nur … ich weiß nicht. Müde, nehme ich an.“
„Jemand sollte dieser Frau einen Drink besorgen, und zwar sofort!“, scherzte Kendra, die dunkelhaarige Krankenschwester.
„Nee“, konterte Jamie, verschmitzt und katzenhaft. „Was unsere Gab wirklich braucht, ist ein Mann. Du bist zu ernst, meine Süße. Es ist nicht gesund, wenn du dich von deiner Arbeit dermaßen in Anspruch nehmen lässt. Du solltest ein bisschen Spaß haben! Wann bist du eigentlich das letzte Mal flach gelegt worden?“
Das war schon zu lange her, aber Gabrielle zählte eigentlich nicht mit. Sie hatte nie an fehlenden Verabredungen gelitten, wenn sie welche haben wollte, und Sex – wenn sie einmal welchen hatte – gehörte nicht zu den Dingen, von denen sie besessen war, so wie einige ihrer Freundinnen. Sie war auf diesem Gebiet momentan total aus der Übung – und außerdem überzeugt, dass ein bloßer Orgasmus sie nicht von ihrer inneren Leere und Rastlosigkeit befreien konnte.
„Jamie hat recht, weißt du“, meinte Kendra nun. „Du musst entspannter werden, geh mal ein bisschen aus dir raus.“
„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, fügte Jamie hinzu.
„Oh nein!“, erwiderte Gabrielle und schüttelte den Kopf. „Ich wollte wirklich nicht so lange machen, Leute. Ausstellungen machen mich immer total fertig, und ich …“
„Fahrer?“ Jamie ignorierte sie, glitt an den Rand des Sitzes und klopfte gegen das Plexiglas, das den Taxifahrer von seinen Fahrgästen trennte. „Planänderung. Wir haben entschieden, dass wir in Feierlaune sind, also streichen Sie das Restaurant. Wir wollen dahin, wo all die angesagten Leute sind.“
„Wenn Sie Tanzclubs mögen, da hat gerade am Nordende der Stadt ein neuer aufgemacht“, meinte der Fahrer kaugummikauend. „Ich hab die ganze Woche schon Fahrgäste dahin gefahren. Sogar heute Abend schon zwei. Das ist ein Nobel-Nachtschuppen namens La Notte.“
„Ooh, La Notte“, schnurrte Jamie, warf einen spielerischen Blick über die Schulter und zog eine Augenbraue geziert hoch. „Klingt für mich absolut fantastisch, Mädels. Lasst uns hinfahren!“
Das La Notte war in einem viktorianischen Gebäude untergebracht, das lange als St. Johns Trinity Parish Church fungiert hatte. Als jedoch vor Kurzem bekannt geworden war, dass die Bostoner Erzdiözese wegen zahlreicher priesterlicher Sexskandale Schmiergelder gezahlt hatte, wurden Dutzende solcher Einrichtungen überall in der Stadt geschlossen. Als sich Gabrielle und die anderen ihren Weg in den überfüllten Club bahnten, hallte synthetische Trance- und Technomusik in den Dachsparren wider und dröhnte aus riesigen Lautsprechern, die einen Rahmen um die DJ-Box in dem Balkon über dem Altar bildeten. Stroboskoplicht leuchtete auf einem Trio aus gewölbten Buntglasfenstern auf; die pulsierenden Lichtstrahlen durchschnitten die dünne Wolke aus Rauch, die in der Luft hing, und stampften zu dem hektischen Takt eines scheinbar endlosen Songs. Auf der Tanzfläche – und auf jedem Quadratmeter von La Nottes Hauptsaal und der Empore über ihnen – tanzten Menschen, wanden sich in einer gedankenlosen Sinnlichkeit.
„Heilige Scheiße!“, schrie Kendra, um die Musik zu übertönen, hob die Arme und tanzte sich durch die dichte Menschenmenge. „Was für eine Location, was? Ist ja irre hier!“
Sie waren nicht einmal an dem ersten Knäuel von Clubgästen vorbei, als sich bereits ein großer, schlanker Kerl auf die attraktive Brünette stürzte, sich zu ihr herunterbeugte und ihr etwas ins Ohr sagte. Kendra lachte kehlig auf und nickte ihm strahlend zu.
„Der Typ will tanzen“, kicherte sie und gab Gabrielle ihre Handtasche. „Wie könnte ich ihn abweisen?“
„Hier entlang“, meinte Jamie und zeigte zu einem kleinen, leeren Tisch in der Nähe der Bar, während Kendra mit dem Mann abzog.
Die drei setzten sich und Jamie bestellte eine Runde Getränke. Gabrielle suchte die Tanzfläche nach Kendra ab, aber sie war von der Menschenmenge verschluckt worden. Trotz des Gedränges hatte Gabrielle plötzlich das Gefühl, dass sie und die beiden anderen mitten im Rampenlicht saßen. Als ob sie allein durch ihre Anwesenheit in diesem Club unter irgendeiner Beobachtung standen. Es war verrückt, so etwas zu denken. Vielleicht hatte sie zu viel gearbeitet, zu viel Zeit allein zu Hause verbracht, wenn allein die Tatsache, unter Menschen zu sein, ihr ein solches Gefühl von Befangenheit, ja Paranoia gab.
„Auf Gab!“, rief Jamie aus, um die dröhnende Musik zu übertönen, und hob sein Martiniglas zum Gruß.
Auch Megan hob ihres in die Höhe und prostete Gabrielle zu. „Herzlichen Glückwunsch zu einer großartigen Ausstellung heute Abend!“
„Danke, Leute.“
Als sie an dem neongelben Gebräu nippte, kehrte Gabrielles Gefühl, beobachtet zu werden, zurück. Oder besser, es verstärkte sich. Sie spürte, wie ein Starren quer durch den abgedunkelten Raum nach ihr griff. Als sie über den Rand ihres Martiniglases hinwegblickte, erhaschte sie das Glitzern eines Stroboskoplichtes, das auf eine schwarze Sonnenbrille traf.
Eine Sonnenbrille, die einen Blick verbarg, der jedoch unverkennbar durch die Menge hindurch auf sie gerichtet war.
Die schnellen Blitze des Stroboskoplichtes warfen einen halten Schatten auf die starren Gesichtszüge des Mannes, aber Gabrielles Augen erfassten ihn mit einem Blick. Volles schwarzes Haar fiel locker um eine breite, intelligente Stirn und schmale, kantige Wangen. Sein Kiefer war stark, streng. Er hatte volle Lippen, sein Mund war sinnlich, sogar wenn er zu dieser zynischen, fast grausamen Linie verzogen war.
Gabrielle wandte nervös den Blick wieder ab, während eine Hitzewelle ihren Körper durchströmte. Das Bild seines Gesichts blieb in ihrem Kopf hängen, dort eingebrannt in diesem einen Augenblick, so wie eine Fotografie. Sie stellte ihren Drink ab und riskierte einen weiteren schnellen Blick zu der Stelle, an der der Mann stand. Aber er war verschwunden.
Ein lautes Krachen ertönte am anderen Ende der Bar und zog augenblicklich Gabrielles Aufmerksamkeit auf sich. Sie blickte über ihre Schulter. Von einem der überfüllten Tische tropfte Alkohol auf den Boden, vergossen aus mehreren zerbrochenen Gläsern, mit denen die schwarz lackierte Oberfläche des Tisches übersät war. Fünf Typen in schwarzem Leder und mit Sonnenbrillen stritten mit einem anderen Mann in geripptem Dead Kennedys-Trägerhemd und zerrissenen, ausgeblichenen Jeans. Einer der Ledertypen hatte den Arm um eine betrunken aussehende Platinblonde geschlungen, die den Jeanstyp zu kennen schien. Vielleicht ihr Freund? Er griff nach dem Arm des Mädchens, aber sie schlug seine Hand weg und neigte den Kopf, damit einer der Ledertypen ihren Hals küssen konnte. Sie starrte ihren wütenden Freund herausfordernd an, während sie mit dem langen braunen Haar des Kerls spielte, der an ihrer Kehle klebte.
„Wie erbärmlich“, meinte Megan und drehte sich wieder um, als die Situation an der Bar eskalierte.
„In der Tat“, sagte Jamie, leerte seinen Martini und winkte einen Kellner herbei, um eine weitere Runde zu bestellen. „Offensichtlich hat die Mama dieser Kleinen vergessen, ihr beizubringen, dass es schlechter Stil ist, nicht mit demselben Kerl zu gehen, mit dem man gekommen ist.“