Gabrielle sah noch einen Moment lang zu, lange genug, um zu sehen, wie ein zweiter Ledertyp näher an das Mädchen herantrat und sich auf seinen erschlafften Mund stürzte. Die Blonde akzeptierte beide gleichzeitig – sie hob ihre Hände, um den dunklen Kopf an ihrem Hals und den hellen, der an ihrem Gesicht saugte, zu liebkosen, als wolle er sie bei lebendigem Leib auffressen. Der Typ in Jeans warf dem Mädchen einige Obszönitäten an den Kopf, dann drehte er sich um und bahnte sich mit Gewalt einen Weg durch die gaffende Menge.
„Dieser Ort macht mir Angst“, gestand Gabrielle, als sie sah, wie einige Clubbesucher am anderen Ende des langen Marmortisches ungeniert koksten.
Die beiden anderen schienen sie durch das treibende Stampfen der Musik nicht zu hören und Gabrielles Unbehagen auch nicht zu teilen.
Irgendetwas stimmte hier nicht, und Gabrielle konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Nacht noch ein böses Ende nehmen würde. Jamie und Megan begannen sich über lokale Bands zu unterhalten. So blieb Gabrielle sich selbst überlassen. Sie trank ihren Martini aus und wartete auf der anderen Seite des kleinen Tisches auf eine Gelegenheit, die beiden anderen zu unterbrechen, um sich verabschieden zu können.
Obwohl mitten in einem Club unter so vielen Leuten, war sie dennoch allein. Sie ließ ihren Blick über das Meer von sich auf und ab bewegenden Köpfen und wogenden Körpern schweifen, heimlich auf der Suche nach den durch eine Sonnenbrille verborgenen Augen, die sie vorher beobachtet hatten. Gehörte er zu den Schlägertypen, die noch immer auf der anderen Seite der Bar Ärger machten? Er war angezogen wie sie und strahlte zweifellos die gleiche düstere Gefährlichkeit aus.
Wer auch immer er war, Gabrielle konnte momentan keine Spur von ihm entdecken.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Dann fuhr sie heftig zusammen, als sich ein Paar Hände von hinten auf ihre Schultern legte.
„Hier seid ihr! Ich habe überall nach euch gesucht, Leute!“ Kendra, die gleichzeitig atemlos und aufgedreht klang, beugte sich über den Tisch. „Kommt schon. Ich habe auf der anderen Seite des Clubs einen Tisch für uns. Brent und ein paar von seinen Freunden wollen mit uns feiern.“
„Cool!“
Jamie war bereits aufgestanden und wollte losgehen. Megan nahm ihren Martini in eine Hand, den von Kendra und ihre Handtaschen in die andere. Als Gabrielle keine Anstalten machte mitzukommen, hielt Megan inne.
„Kommst du?“
„Nein.“ Gabrielle stand auf und hängte sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter. „Macht ihr ruhig weiter. Viel Spaß! Ich bin völlig fertig. Ich glaube, ich nehme mir einfach ein Taxi und fahre nach Hause.“
Kendra machte einen Schmollmund wie ein kleines Mädchen. „Gab, du kannst nicht gehen!“
„Soll ich dich begleiten?“, bot Megan großzügig an, obwohl Gabrielle sah, dass sie bei den anderen bleiben wollte.
„Nein, ist schon gut. Feiert schön, aber seid vorsichtig, okay?“
„Bist du sicher, dass du nicht bleiben willst? Nur für einen einzigen Drink?“
„Nee. Ich muss wirklich gehen und ein bisschen Luft schnappen.“
„Dann mach, was du willst“, tat Kendra gespielt böse. Sie machte einen Schritt nach vorn und küsste Gabrielle schnell auf die Wange. Gabrielle konnte ihre Wodkafahne riechen und noch einen anderen, undefinierbaren Geruch. Irgendetwas Moschusartiges, seltsam Metallisches.
„Du bist eine Spielverderberin, Gabby, aber ich hab dich trotzdem lieb.“
Mit einem Augenzwinkern hakte Kendra sich bei Jamie und Megan unter und zog sie dann spielerisch auf die tanzende Menschenmenge zu.
„Ruf mich morgen an“, formte Jamie mit den Lippen in Gabrielles Richtung, während das Trio allmählich von der Menge verschluckt wurde.
Gabrielle machte sich sofort auf den Weg zur Tür, begierig, den Club so schnell wie möglich zu verlassen. Je länger sie dort gewesen war, desto lauter war ihr die Musik vorgekommen, hatte in ihrem Kopf gedröhnt und ihr das Denken und die Konzentration auf ihre Umgebung beinahe unmöglich gemacht. Menschen drängten sich von allen Seiten gegen sie, als sie versuchte, zwischen ihnen hindurchzugelangen, drückten sie gegen die tanzenden, mit den Armen rudernden, sich drehenden Körper. Sie wurde angerempelt und gestoßen, von unsichtbaren Händen in der Dunkelheit angefasst und betatscht, bis sie schließlich in die Eingangshalle des Clubs stolperte und dann durch die schwere Doppeltür ins Freie gelangte.
Die Nacht war kühl und dunkel. Sie holte tief Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und den Lärm, den Rauch und die beunruhigende Atmosphäre vom La Notte abzuschütteln. Die Musik war hier noch immer dröhnend laut, das Stroboskoplicht blitzte immer noch wie kleine Explosionen hinter den großen Buntglasfenstern über ihr auf, aber Gabrielle kam wieder ein wenig zu sich, nun, da sie draußen war.
Nur wenige Menschen waren auf der Straße. Einige gingen auf dem Bürgersteig unter ihr vorbei, andere stiegen die Treppe hinauf und betraten den Club. Niemand achtete auf sie, als sie zum Straßenrand hinuntereilte, um auf ein Taxi zu warten. Schon entdeckte sie einen gelben Wagen, der in ihre Richtung fuhr, und streckte ihre Hand aus, um ihn anzuhalten.
„Taxi!“
Als sich das leere Taxi seinen Weg durch den nächtlichen Verkehr gesucht hatte und neben ihr hielt, flogen die Türen des Nachtclubs krachend auf.
„He, Mann! Was zum Teufel …“ Hinter Gabrielle erklang eine männliche Stimme und stieg eine Oktave an, um dann eine Tonlage knapp unterhalb von Angst zu liegen. „Wenn du mich noch ein einziges Mal anfasst …“
„Was ist dann, zum Teufel?“, höhnte eine andere Stimme, die tief und unheilvoll klang. Mehrstimmiges belustigtes Gelächter ertönte.
„Ja, sag es uns, du kleines Stück Scheiße. Was passiert dann?“
Während ihre Finger den Türgriff des Taxis packten, drehte sich Gabrielle um, halb beunruhigt, halb voller Angst vor dem, was sie sehen würde. Und wirklich: Es war die Gang aus der Bar, die Rocker, oder was auch immer sie waren, in schwarzem Leder und mit Sonnenbrillen. Diese sechs umkreisten den Jeanstyp wie ein Rudel Wölfe; abwechselnd schlugen sie nach ihm, spielten mit ihm wie mit einem Beutetier.
Der Junge holte zum Schlag gegen einen von ihnen aus, verfehlte ihn – und die Situation eskalierte augenblicklich.
Auf einmal kam die kämpfende Gruppe lautstark auf Gabrielle, die am Straßenrand stand, zu. Die Angreifer schleuderten den Jungen gegen die Motorhaube des Taxis und schlugen ihm ins Gesicht. Blut spritzte aus seiner Nase und seinem Mund, einige der Blutstropfen trafen Gabrielle. Sie trat einen Schritt zurück, geschockt, entsetzt. Der Junge suchte nach Halt, wollte fliehen, aber seine Angreifer ließen nicht von ihm ab und verprügelten ihn mit kaum vorstellbarer Brutalität.
„Verschwindet von meinem gottverdammten Auto!“, brüllte der Taxifahrer durch das offene Fenster. „Verdammt! Macht das woanders, kapiert?“
Einer der Schläger wandte dem Taxifahrer das Gesicht zu, lächelte ein schreckliches Lächeln und schlug dann mit seiner großen Faust gegen die Windschutzscheibe, sodass das Glas in eine Million winziger Kristalle zersplitterte. Gabrielle sah, wie der Fahrer sich bekreuzigte, sein Mund bewegte sich lautlos in einem stummen Gebet. Knirschend legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr mit quietschenden Reifen ruckartig los; der Junge rutschte von der Motorhaube und stürzte zu Boden.
„Warten Sie!“, schrie Gabrielle, aber es war zu spät.
Wie sollte sie nun nach Hause kommen, wie von diesem grauenvollen Ort fliehen? Starr vor Angst sah sie, wie das Taxi davonraste, sah seine roten Schlusslichter in der Dunkelheit verschwinden.
Die sechs Männer kannten unterdessen kein Erbarmen mit ihrem Opfer, prügelten es bis zur Besinnungslosigkeit – und bemerkten in ihrer Raserei Gabrielle nicht.
Die drehte sich um und rannte die Stufen zum Eingang vom La Notte wieder hinauf, während sie in ihrer Handtasche nach ihrem Mobiltelefon suchte. Endlich fand sie es und klappte es auf. Sie wählte die Notrufnummer, während sie die Türen des Clubs aufriss und in die Eingangshalle stolperte. Panik stieg in ihr auf. In dem ganzen Lärm, den die Musik und die Stimmen verursachten, aber auch durch das laute Hämmern ihres Herzens, hörte Gabrielle nur ein Rauschen am anderen Ende der Leitung. Sie nahm das Handy von ihrem Ohr …